Thomas Wolfe: "Von Zeit und Fluss". Rezension
Neuübersetzung des 1200 Seiten umfassenden Werks von 1935. Was als Familiengeschichte beginnt, mündet in einen sprachgewaltigen, monumentalen Bildungsroman.
Buchcover
© Manesse Verlag, Zürich
Unterwegssein als Selbstzweck
Eugene stammt aus Catawba im westlichen North Carolina und schickt sich an, nach Cambridge zu fahren, um dort zu studieren. Wolfe braucht lange für ein familiäres Zusammentreffen am Bahnsteig, bis die Zugfahrt endlich losgeht und er ansetzt zu einer Hymne auf die mächtige, wilde, ungeformte amerikanische Erde. Geschätzte 15 Prozent des Werks nehmen die Beschreibungen der Zugfahrten in Anspruch, wobei eine ungewöhnliche Landschaftsverliebtheit und Technikfaszination zutage tritt und das bloße Unterwegssein zum Selbstzweck wird. Er macht eine Zwischenstation bei seinem in Agonie liegenden Vater, der als schlichter Steinmetz nie zur höheren Gesellschaft gehörte. In Harvard, wo Eugene Theaterwissenschaften studiert, stößt er auf Kommilitonen, die sich in ästhetischer Abgehobenheit bereits für die Blüte des Geistesleben halten. Gelegentliche Besuche bei seinem abenteuerlichen Onkel, der als Karikatur gezeichnet ist, erwecken zunächst den Anschein, als sei er mit seinen bizarren Geschichten ein wesentlicher Handlungsträger. Dabei wird der auch recht rasch aussortiert, als habe es ihn nie gegeben.
Alter Ego des Autors
Man könnte Eugene auch als Alter Ego von Wolfe bezeichnen. Doch nicht selten wird er als grüner Jüngling beschrieben, der, von Schüchternheitsaufwallungen heimgesucht, sich mühsam in seinem Leben vorantastet. Ohne Zweifel, Thomas Wolfe liebt diese Figur, bemüht sich aber, auf Distanz zu gehen. Gewiss, das Buch enthält überflüssige, viel zu ausgedehnte Sequenzen, die die Handlung nur verschleppen und das Ganze in die Breite ziehen. Insofern ist Wolfe ein König der Marginalien, wobei er eine Flut von Adjektiven verwendet, die sich mitunter gegenseitig einschränken, und Oxymorone, die man ihm aber verzeiht. Bedenklich wird es bei der Bezeichnung "Nigger", obwohl dieser Begriff damals in den Staaten gang und gäbe war, und bei Schilderungen von Juden, die nicht immer frei sind von – längst verjährten - Vorurteilen. Grandios wird der Roman vor allem, wenn Wolfe mit seiner Sprache einen Freiraum erobert und die Wörter aus ihm heraustreten und quellen und die Sinne wie betäubt werden. Es ist das, was man gemeinhin als Inspiration betrachtet: Der Leser wird in einen Strudel herabgezogen und ist in dieser alles überflutenden Welt wie gefangen.
Inmitten eines Künstlerkreises
Interessant sind das Studentenleben und das Eintauchen in die Bohème. Eugene lässt sich in seiner Umgebung treiben, er ist nie ein Getriebener. Während seiner Europa-Reise, in Paris begegnet er seinem alten Freund Starwick wieder, der zusammen mit zwei Frauen aus Massachusetts in subkultureller Unabhängigkeit ein von bürgerlichen Ketten befreites Leben führt, in dem notorische Café-Besuche der Selbstfindung und Daseinsintensivierung dienen. Eugene verliebt sich in eine dieser Frauen, wird aber wegen ihrer Liebe zu Starwick abgewiesen. Hier zeigt sich Eugene von seiner schlechtesten Seite, er verstrickt sich in ein überzogenes Rivalitätsdenken und wird gewalttätig bei jemanden, der wie ein verwester, der zarten Schönheit verhafteter Ästhet einen langsamen Tod im Leben erfährt. In Orléans widerfährt Eugene Kurioses, er wird für einen Redakteur der New York Times gehalten. Der originellen Sprache versuchte Wolfe mitunter eine Originalität des Inhalts hinzuzufügen. Je länger sich Eugene in Europa aufhält, desto größer wird seine Sehnsucht nach Amerika, das er geradezu besingt als seinen wilden, grenzenlosen Mutterboden, den einzigen Standort, wo er wahrhaft kreativ sein kann, wo es aus allen Fasern seines Körpers sprudelt. Insgesamt ein kolossales Werk.
Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss. Aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli. Nachwort von Michael Köhlmeier. Manesse-Verlag, Zürich 2014. 1200 Seiten.
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)