Buchcover

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Die große internationale Vernetzung

Der Roman ohne eigentliche Handlung und unentwickelte, nur kurz skizzierte Personen wirft immerhin einiges an Informationen ab. Der Leser erfährt, dass Paris heutzutage nur deshalb so gut asphaltiert ist, weil die wilden 68er für ihre Umsturzpläne unkontrolliert Pflastersteine aus dem Boden rissen. U, dank Peyman unglaublich vernetzt und selbst nach dem erträglichen Sex mit Madison an einen Ölteppich denkend, hat zum Beispiel einen computergrafisch gestützten Lagebericht übers nigerianische Lagos geliefert. Hierbei werden nicht-informierte Leser über den in Gang gesetzten Braindrain in Kenntnis gesetzt. Der Protagonist ist keineswegs unbedeutend, er nimmt an Kleinkonferenzen teil, bei der auch die Exekutive anwesend ist, etwa eine Ministerin. Abgesehen von der Feststellung, dass die hohe Frau über kein Charisma der Macht verfügt, konzentriert er sich nicht auf das von ihr zu Protokoll Gebrachte, sondern auf ihren Fuß. Anscheinend blickt U fortwährend unter den Tisch. Was dort stattfindet, ist der verzweifelte Versuch einer Ministerin, sich aus den Fesseln eines Schuhs zu befreien. Ansonsten reflektiert U über eine Konferenz von anthropologischen Fachleuten, bei der er tatsächlich einen – nicht gerade erfolgreichen - Vortrag gehalten hat. Die Gedanken gehen weiter: Er entwirft eine fulminante Rede, die von Konferenzteilnehmern ekstatisch gefeiert wird, weil die plötzlich alle ihre Liebe zu Ölteppichen entdecken.

 

Der anerkannte Anthropologe zweifelt an sich selbst

Normalerweise gilt solch ein Protagonist als hoffnungsloser Neurotiker, aber dafür ist er viel zu intellektuell, zu gewandt und leichtfüßig-schwebend und, ja, zu poetisch. Das von Peyman ausgerufene Großprojekt Koob-Sassen läuft unerwartet erfolgreich an und U ist ein Hauptbeteiligter, der vom Boss überschwänglich gelobt wird. U versteht die Welt nicht mehr, war doch seine Mitwirkung seiner Einschätzung nach gar äußerst bescheiden. Hier driften subjektive Geschmacksurteile und objektive Bewertung weit auseinander, und der Leser weiß nicht, an wen er sich nun zu halten hat. Die Versagensängste sind gewaltig: Der ebenfalls von Peyman angeordnete Große Bericht, eine Art von zeitgenössischer Groß-Anthropologie, wird von U abgebrochen, da er glaubt, sie sei schon längst geschrieben. Am Ende des Romans, der auf nähere Personenbeschreibungen gänzlich verzichtet und alles gerne im freien Luftraum belässt, möchte der erschöpfte U in New York mit einer Fähre nach Staten Island fahren. Hier gelingen Tom McCarthy detaillierte, literarisch hochgradige Szeneschilderungen, die einen förmlich in den Bann ziehen und die Sehnsucht aufsteigen lassen, mit dem Autor dabei zu sein. Ein kleines Juwel eines literarischen Äquilibristen, aber was macht der Held: Er zieht den durchaus vorhandenen Schwanz ein und bleibt resignierend zurück, weiterhin die Szenerie beobachtend. Symptomatisch für das ganze Buch. Es ist dies ein Buch, das mit Wissen vollgepfropft ist. Ein assoziationsgewaltiger, harter Knochen, den es abzunagen gilt, hauptsächlich für nachrückende Literaturwissenschaftler.

Tom McCarthy: Satin Island. Roman. Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Melle. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016. 224 Seiten, 19,99 EUR

 

 

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