Der emsige Bürobetrieb

Der emsige Bürobetrieb (Bild: Jean-Pierre Estournet)

Kampf um die Entlassung

Schreibmaschinenblätter wirbeln auf und bleiben verstreut auf dem Boden liegen. Auf Anhieb scheint der Schreiber Bartleby ein genuiner Autist zu sein, in einer Eigenwelt lebend, fleißig, akribisch und normkonform. Irgendwann bleibt sein mechanischer Arbeitseifer auf der Strecke wie ein Auto, das keinen Sprit mehr bekommt – allerdings gibt es bei Kraftfahrzeugen nicht den Ausdruck Entfremdung: Die Theorie der prozessualen Verdinglichung ist für Menschen vorgesehen. Ein Firmenanwalt will ihn loswerden, weil Bartleby auf Fragen nicht mehr reagiert, und verliert seine Sanftmut und innerliche Stärke, bis hin zur halb-cholerischen Ausfälligkeit. Bartleby: Stoisch, ausdrucksloser Blick ins Leere, dahin, wo sich die Konturen der Außenwelt auflösen, und Geste der Unansprechbarkeit. Je inwendiger sich Bartley ins sein selbsterschaffenes Schneckenhaus zurückzieht, desto ungestümer und "vorzivilisatorisch" gebärdet sich der hektisch-betriebsame Anwalt, der wie ein Firmenchef fungiert. Endlich ist es soweit: Der enervierte Jurist feiert die Entlassung mit einer Nachtmütze. Doch es ist nur eine scheinbare, denn infolge eines unerklärlichen metaphysischen Gesetzes – vielleicht auch profaner: infolge eines im Stillen verabredeten Abkommens – darf Bartleby das Büro nicht verlassen. Und der Anwalt muss gehen. Die Raumteiler im Hintergrund werden verhüllt, Dämpfe steigen auf, die Figuren befinden sich in wolkiger Umhüllung und werden zu flüchtigen Schattenrissen. Doch das ist nicht die Selbstzersetzung, der Untergang. Der Anwalt wird aufgefordert, nun endlich finale Maßnahmen zu ergreifen.

 

Foto: Jean-Pierre Estournet

 

 

Genug der Selbstoptimierung

Die überbordende Dynamik der Büroangestellten ist wohl auf firmengesteuerte Selbstoptimierung zurückzuführen. Eine Angestellte gibt es nicht, abgesehen von Margarete Biereye, die zwischendurch wie ein erratisches Märchenwesen im bunten Rock im Büro auftaucht und eine beinahe prähistorische Uhr in die Höhe hält. Mit einfachen Mitteln wird eine Kafka-Welt erzeugt, in der scheinbar disziplinierte, aber in Wahrheit planlose Beamtennaturen wie unverwüstliche Insekten umherirren, als sei die von Vorgesetzten eingetrichterte Beflissenheit oberstes Gebot. Kurz: Bartleby will nicht mehr funktionieren und sich einer Selbstzerfleischung aussetzen. Am Ende sitzt der Systemverweigerer auf einer installierten Schreibtisch-Empore und befindet sich – vor Gericht. Hier scheint es sich um ein transzendentales Arbeitsgericht zu handeln, das ihn letztlich in den Knast befördert, wo er seine Verhungerung gleichsam systematisch vorantreibt. Auf der Bühne wird das umgesetzt durch ein Arrangement zusammengestellter verrosteter Paravents, die als Gitter eine undurchdringliche Wand bilden. Das ist der Sterbeort für jemand, der sich an die Lebensphilosophie der Upanischaden hält, ohne jemals von derartigen lebenspraktischen Theorien berührt worden zu sein. Das ist das vollständige Abtöten, besser: das Absterbenlassen des Lebenswillens, um ins Nirwana zu versinken, wo man kein Rad mehr im sinnlosen Getriebe ist. Die zugleich schlichte und prätentiöse Inszenierung insgesamt: Da ist kein angestrengter Kunstwille zu sehen, es ist reine Kunst.

 

Barleby, der Schreiber

von Herman Melville

Regie, Bühne und Kostüme: Ton und Kirschen

Es spielen: Stefano Amori, Margarete Biereye, Victor Cuevas, Régis Gergouin, David Johnston, Rob Wyn Jones, Nelson Leon, Daisy Watkiss.

UFA-Fabrik Berlin

Aufführung vom 25. August 2017

Dauer: ca. 70 Minuten

 

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