Eine Droge sorgt für wirtschaftlichen Aufschwung

Buchcover

© Kiepenheuer & Witsch

 

Ein zufriedenes und glückliches Land scheint es zu geben: Das in der Provinz Altai angesiedelte Tellurien. Hier regiert der parlamentarisch gewählte Präsident Jean-François Trocart, der aus einem unbedeutenden Agrarstaat eine finanziell saturierte dreisprachige Republik geschaffen hat, die sich im Ruhm der Tellurischen Heilerei sonnt. Das Geheimnis des Wohlstands ist der Tellurkeil, der von ehrenhaften, kodexdiktierten Zimmermännern in den Kopf geschlagen wird und begeistert-ekstatische Zustände hervorruft, die viel mehr als herkömmliches Glück bedeuten. Die Droge Tellur ist ein gewaltiger Exportartikel, begehrt von zahlreichen Ländern, aber von anderen Staaten wegen des hohen Suchtpotentials abgelehnt. Sorokin beschreibt im Roman immer wieder das unersättliche Verlangen nach Tellur, als sei es die einzige Möglichkeit, der Wirklichkeit zu entfliehen, sie zu überwinden und in ein Traumland einzutauchen. Der überaus beliebte Präsident Trocart lässt es sich gelegentlich nicht nehmen, nach einer gefährlichen Skifahrt seine von Hartbrennstoff betriebenen Flügel auszuspannen und übers Land zu fliegen, um dann bei einer alteingesessenen Familie ein Volksgericht zu speisen. Ganz anders die aristokratische Tatjana in Sokolowskaja: Sie gibt sich ihrem Volk hin, indem sie sich von drei rustikalen, sodomitisch veranlagten Handwerkern vergewaltigen lässt. Jeder sucht auf seine Weise die Verbindung zum Volk.

 

Ein Durcheinander von Sprachstilen

Der Roman besteht aus 50 Kapiteln, die scheinbar wahllos aneinandergereiht und keinem Konzept verpflichtet sind. Ohne Mühe könnte man die Reihenfolge der Kapitel vertauschen – hauptsächlich die Leitmotive Grips, Tellur und das Zurückschlagen der islamischen Offensive halten den Roman zusammen. Es sind 50 Anekdoten, in denen so ziemlich alle Sprachstile und Genres vorkommen, z.B. geschliffene, subtile Prosa, Märchen, Brief, Wissenschaft, aktuelle Alltagssprache, Mittelalterduktus, Drama, hymnische Prosa-Lyrik und das vor rund hundert Jahren inaugurierte Weglassen aller Satzzeichen. Abgesehen davon, dass der Leser von der vielseitigen Sprachbegabung und literarischen Bewanderung des Autors in Kenntnis gesetzt wird, entsteht dadurch kein Mehrwert. Strukturlos steht der Roman da, ohne jegliche Personenentwicklung, er ist nur eine flüchtig umherhaschende Bestandsaufnahme der kühn ausgedachten Zukunftsverhältnisse. Ist man mitunter fasziniert von der ungewöhnlichen Formulierungskunst, so wird man zugleich etwas abgestoßen von der überbordenden Phantasie, die eine verworrene Rabelais-Welt entwirft, in der Gnome, Ungeheuer, Fabelwesen ihr Unwesen treiben. Es gibt auch Große und Kleine, und man ist dem Autor dankbar, dass er in seiner ständischen Fiktion keine Noch-Kleineren hinzugefügt hat. Und dennoch, in seinen geistigen Höhenflügen gelingen Sorokin einige glänzende Passagen, etwa die Beschreibung der Verhältnisse in der SSSR (Stalinische Sowjetische Sozialistische Republik). In diesem von neugierigen linken Touristen und Reichen besuchten Vorzeigeland findet eine Glorifizierung Stalins statt, mit dem man mit Hilfe der modernen Technik (Grips) in Kontakt treten kann. "Und sie (die Stalinisten) vereinigten sich alle fünf Jahre, tauschten Erfahrungen aus, hielten Vorträge, stießen Verwünschungen aus, die dem Kapitalismus, der Monarchie, dem Revisionismus und Opportunismus galten, berichteten über den nächsten Stalinischen Fünfjahressplan und verschmolzen im kollektiven Orgasmus der Ovationen und Toaste zu Ehren ihres unsterblichen schnauzbärtigen Gottes..." Oder auch die neu gegründete Republik Nordrhein-Westfalen. Nach Vertreibung der Taliban herrschen hier ein deutscher Präsident und ein türkischer Kanzler, die die harmonische Verbindung von deutsch-türkischer Kultur perfekt machen und wieder den Karneval erlauben. Roboterhafte Kreuzritter existieren in diesem Roman ebenso, und insgesamt ist das ein fragwürdiges Sammelsurium, das doch etwas zu sehr an Science-Fiction orientiert ist. Ein zwiespältiges Buch.

Vladimir Sorokin: Telluria. 2015, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Aus dem Russischen von Kollektiv Hammer und Nagel, 416 Seiten.

 

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