Die Volksbühne

© Steffen Kassel

 

Retro-Sehnsüchte steigen auf

Kuttner sieht eine historische Linie von Piscator zu Besson bis hin zur heroischen castorfschen Endphase – kurz PBC, nicht zu verwechseln mit der Partei Bibeltreuer Christen. Viele bekannte Schaubühnen-Größen fehlen an diesem Abend, wenigstens wird Altstar Henry Hübchen aufgefahren, wenngleich nur im Video. Seine Anwesenheit im Wohnwagen wird simuliert, die Szene wurde wohl vorher gefilmt. Aber Hübchen gibt Anlass zur Wehmut, und selbst in der sich souverän gerierenden Volksbühne möchte man Nostalgiegefühle hervorlocken. Bestens dazu geeignet ist das Fossil Silvia Rieger, die früher oft bei großen Inszenierungen brillierte und jetzt einen Pollesch-Text liest, leider viel zu dramatisch. Ohnehin zwischen erhabenen Gefilden, Pathos und Hysterie oszillierend, wird sie diesmal eindeutig zu heftig. Sie erwähnt immerhin Tennessee Williams, dabei denkt man automatisch an "Endstation Amerika" mit Hübchen und Rieger, und gedämpfte Retro-Sehnsüchte steigen auf. Leider fehlt bei der Aufführung dieser Kritik die erkrankte Sophie Rois, deshalb braucht Mex Schlüpfer "Mommsens Block" nicht zu unterbrechen mit einer Geschichte über einen Volksbühnen-Portier von 1972. Schlüpfer hat schnoddrige freie Bahn, erzählt, wie späte Kantinenbesucher, darunter Manfred Karge, bei der Vopo gemeldet wurden. Kaum zu glauben, wo der mittlerweile 76-Jährige damals die Kraft hernahm, um einen Portier dreimal auf den Boden zu schleudern.

 

Ziegelsteine vor die Füße

Immerhin ist Ursula Karruseit anwesend, die früher viele Brecht-Rollen an der Volksbühne darstellte. Immer noch rüstig wirkend, singt sie über einen Elefanten, daneben eine Brechtpuppe, dirigiert von der sprachtechnisch versierten Suse Wächter. Macht die Brecht-Imitation noch einigermaßen Spaß, so langweilt Wächter mit einem irritierenden Hitler-Beitrag, der weder amüsant, provozierend oder gar originell ist.- Statt Urgesteine liefert Kuttner zahlreiche Ziegelsteine – aus Schaumgummi. Heiner Müllers "Herzstück" ist an der Reihe, das im Chor sprechende Publikum mischt mit und wirft die zuvor verteilten Schaugummi-Teile Margarita Breitkreiz vor die Füße. Die wartet leicht kokett und mit verengtem Blick auf die frohe Botschaft. Der schnell arrangierte Film am Ende mit widerwillig-freiwilligen Zuschauern ist durchaus eine kleine Attraktion. Wer alles zusammenhält, ist zweifelsohne Kuttner, der mit seinem berechnenden Sprachwitz genau weiß, wann es geboten ist, Gruppenlacher hervorzukitzeln. Ist diese Jubiläumsfeier nun ein Abgesang, eine Zwischenbilanz oder ein Aufbruch? Es ist ein Abend nach dem Motto: Die Volksbühne wird niemals untergehen. Möge es mit Volldampf weitergehen.

Ach, Volk, du obermieses
Eine Revue am Bülow-Wessel-Luxemburg-Platz
von Jürgen Kuttner und André Meier
Regie: Jürgen Kuttner, Konzeptionelle Mitarbeit: André Meier, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Johannes Zotz, Video: David Tschöpe, Dramaturgie: Sabine Zielke, André Meier.
Mit: Jürgen Kuttner, Margarita Breitkreiz, Suse Wächter, Mex Schlüpfer, Ursula Karusseit, Maximilian Brauer, Silvia Rieger, Hans-Jochen Menzel, Sophie Rois, Harald Warmbrunn, Chor der Werktätigen, Michael Letz und Band EMMA.

Volksbühne Berlin

Premiere: 4. Dezember 2014, Kritik vom 17. Dezember 2014

Dauer: ca. 2 Stunden 45 Minuten

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