Die Volksbühne

Die Volksbühne (Bild: © Steffen Kassel)

Suggerierte Konsumentscheidungen

Das Bühnenbild wirkt zunächst einmal sehr imposant. Die Wände sind vollgestellt mit bis an die Decke gehenden Regalen, wie in einer Bibliothek. Man sieht aber keine Bücher, sondern Discounter-Produkte, die zum Herausgreifen einladen. Warenfetischismus und Konsumterror sind die ersten Schlagworte, die einem dazu einfallen. Und tatsächlich, wenig später spricht es Ilse Ritter als Hure auch schon aus: Konsumfaschismus! Die bösen Waren, die mit Hilfe der Werbung unsere Bedürfnisse nivellieren und normieren, führen unweigerlich zur Egalisierung der Gesellschaft. Beinahe unwillkürlich wird man an die Thesen der Kritischen Theorie (Adorno, Marcuse, Horkheimer) erinnert, die beispielsweise entlarvten, dass angeblich autonome Entscheidungen meist nur "suggerierte Konsumentscheidungen" seien. Die Frankfurter Schule war vor allem in den 70er-Jahren Westdeutschlands sehr populär, in einer Zeit also, als Pasolinis Film gedreht wurde und die Leute noch kritische Fragen an die Gesellschaft stellten. So entsteht der Eindruck, Kresniks Inszenierung komme 4 Jahrzehnte zu spät, zumal die Ästhetik etwas obsolet wirkt, als wolle er etwas vom Zauber des Antiquarischen einfangen.

 

Lust und Exkremente

Während die Henker genießerisch das willenlose Fleisch malträtieren, lassen ihre gleichgültig hingeworfenen Worte aufhorchen. Die hohen Herren betrachten ihre Lustquellen als Erziehungsprodukte, die nur noch gehorchen, fressen und saufen. Hier könnte man nun wieder bei der Kritischen Theorie anknüpfen: Der durch Überkonsumtion hervorgerufene Konformismus ist so weit fortgeschritten, dass die kleingmachten Egalisierten den Herrschenden nur noch resignativ zusehen. Sie wehren sich nicht mehr, geben sich dem Schicksal hin. Und die sexuell aufgepumpten Autoritäten, die quasi die Staatsmacht repräsentieren, bekommen Omnipotenzgefühle. Der Staat hat seine Fangarme längst ins Privatleben hineingebohrt und aus dem Leben eine große Orgie geschaffen, in der statt Waren Menschen verkonsumiert werden, bis sie zu einer zähen Fäkalmasse schrumpfen, die als Futter dient fürs nächste Opfer. Von (künstlichen) Exkrementen macht Kresnik nahezu hemmungslosen Gebrauch, sie kommen immer wieder zum Einsatz, etwa wenn Sarah Behrendt von allen Seiten angepinkelt wird. Einem aufgebahrten Jesus wird der Penis abgetrennt, und das blutende Amputat landet in irgendeinem gierigen Schlund, der daran kaut, als handele es sich um einen Hasenbraten. Ein andermal schneiden die vier einer Frau ein Baby heraus, um es zu zerhacken und grillen. Es gibt einige solcher Szenen, die aber weder aufwühlen noch schockieren – zu künstlich ist diese Welt, die Kresnik da aufgebaut hat. Während der Richter (Helmut Zhuber) wie ein exaltierter Frosch in Damenkleidung herumhüpft, spielt Hannes Fischer als Bischof den kühl Abgeklärten, der Moral weit hinter sich gelassen hat. Das alles kann nach Kresnik wohl nur der Konsumfaschismus anrichten. Diese Aufführung kann man sich ansehen, sie hinterlässt aber keine Spuren.

Die 120 Tage von Sodom
nach Marquis de Sade und Pier Paolo Pasolini
Regie: Johann Kresnik, Libretto: Christoph Klimke, Bühne und Kostüm: Gottfried Helnwein, Musik: Ali Helnwein, Choreografie: Ismael Ivo, Johann Kresnik, Dramaturgie: Sabine Zielke, Christoph Klimke.
Mit: Inka Löwendorf, Ilse Ritter, Sarah Behrendt, Hannes Fischer, Helmut Zhuber, Roland Renner, Enrico Spohn, Juan Corres Benito, Andrew Pan, Ismael Ivo, Valentina Schisa, Sylvana Seddig, Sara Simeoni, Osvaldo Ventriglia, Elisabetta Violante, Yoshiko Waki, Günter Cornett, Helmut Gerlach, Wagner Peixoto Cordeiro, Arnd Raeder, Christian Schlemmer, Leandro Tamos, Katia Fellin, Paula Knüpling, Ruby Mai Obermann, Estefania Rodriguez, Nathalie Seiß, Marlon Weber, David Eger, Lukas Steltner, Lucia Itxaso Kühlmorgen Unzalu.

Volksbühne Berlin

Kritik vom 2. Juni 2015
Dauer: ca. 100 Minuten, keine Pause

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