Unersättliches Gelage

Bert Neumann hat einmal mehr einen gewaltigen Kasten auf die Bühne gewuchtet: Ein mehrstöckiges Haus mit Außentreppen. Darin spielen sich die meisten Szenen ab, sie werden auf eine Leinwand geworfen, die sich sogar einige Male zweiteilt. Dieser Überschuss an Videos sorgt nicht gerade für mehr Spannung im Handlungsverlauf, er macht das Geschehen nicht authentischer, gehört aber unverrückbar zur Marke Castorf. Auf der linken Bühnenseite hängt glitzerndes Lametta herunter und in lufitger Höhe ist die Aufschrift ‚Asia Quick' zu lesen, obwohl ‚Asia Quickie' besser zu diesem exzessiven Gelage gepasst hätte. Schnellen Sex gibt es zuhauf, auch Mehrfachbindungen und saftige Seitensprünge. Wer schon immer Geschmack an Lilith Stangenbergs Beinen gefunden hat, kommt auch diesmal voll auf seine Kosten.

 

König des Hedonismus

Balzacs Roman mag eine Kritik der Durchökonomisierung des Lebens sein. Eine Welt als Wille und Geldgier. Das trifft bestimmt nicht auf Bette zu, die, in der Jugend erniedrigt und beleidigt, aus puren privaten Abrechnungswünschen einen kühn kalkulierten Racheplan entwickelt. Das gilt aber sicherlich für Valérie (Claire Sermonne), die als Halbweltdame die Liebhaberin von Baron Hulot und zwei weiteren Männern ist. Neben den libidinösen Verquickungen ist ihr einziges Lebensziel die permanente Anhäufung von Kapital. Ein ungekrönter König des Hedonismus ist Baron Hulot (Alexander Scheer), dessen unersättliche Genusssucht und sein unaufhörliches Verlangen nach reizenden Frauen seine Familie in den finanziellen Ruin treiben. Kapitalismus basiert auf Kreditwirtschaft. Man nimmt Schulden auf, um das Geld später wieder hereinzuholen – und Gewinn zu erwirtschaften. Doch Hulot holt mit seinen exorbitanten Ausgaben gar nichts herein, übrig bleibt ein zerknittertes Herz. Alexander Scheer ist mit seinem Schnauzer und einer Hornbrille nur nach wiederholtem Hinsehen zu erkennen. Einfacher ist's bei Marc Hosemann, der mit einem Zwirbelschnauzer und einem künstlichen Bauch herumläuft. Bei einem Balzversuch bleibt vor allem ein Satz hängen, geäußert vom Werbenden: "Man kann auch abnehmen."

 

Für die Freunde der Fleischlichkeit

Die einzige Frau, die wirklich zu lieben scheint, ist Hortense (Lilith Stangenberg), doch der polnische Künstler (Maximilian Brauer) ist ihr wohl eher aus repräsentativen und Knusprigkeitsgründen zugetan. Lilith Stangenberg passt sich einigermaßen ihrer Rolle an, aber immer nach ihrem eigenen Muster. Mit Balzac hat Castorf einen Dostojewski-"Erben" für die Bühne – seine Bühne – gefunden. Hauptsache, es wird viel intrigiert, gestritten, gehasst und geliebt. Der in den Romanen nicht beschriebene, nur angedeutete Sex wird einfach hinzugemischt, um Freunden der Fleischlichkeit Genüge zu tun – und auch dem eigenen Hedonismus. Welchen Roman wird Castorf demnächst präsentieren und zurechtpräparieren, vielleicht Balzacs "Nana"? Da wird die Welt in eine einzige große Lusthöhle verwandelt. Mitunter mag es einem so vorkommen, als benutze er einen Roman oder ein Drama nur als Vorwand, als Aufhänger, dazu da, die eigenen bizarren Ideen zu entfalten. Den Vorwurf des Eklektizismus kann man gegen Castorf wahrlich nicht erheben. Aber er ist ein Epigone seiner selbst geworden. Die Inszenierung ist noch annehmbar, doch im Vergleich zu der großartigen Inszenierung "Das Duell" ein Rückschritt. Am Ende erscheint Alexander Scheer als tattriger Opa, er ist nicht einmal mehr ein intakter Lustgreis, denn er hat sein Pulver schon frühzeitig verschossen. In der zweiten Aufführung haben fast alle Besucher bis zum Schluss durchgehalten. Abgehärtete Castorfianer.

La Cousine Bette
nach Honoré de Balzac
Regie: Frank Castorf, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Tabea Braun, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Lilith Stangenberg, Jeanne Balibar, Claire Sermonne, Alexander Scheer, Bernhard Schütz, Kathrin Angerer, Marc Hosemann, Maximilian Brauer, Noa Niv.

Volksbühne Berlin

Premiere am 19. Dezember 2013, Kritik vom 21. Dezember 2013
Dauer: 5 Stunden, eine Pause

Foto 1: Jeanne Balibar © Martin Kraft/Wikipedia

Foto 2: Alexander Scheer © Ali Kepenek/Wikipedia


 

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