Volksbühne Berlin: Kritik von "Pelléas und Mélisande" – David Marton
Premiere. Maurice Maeterlincks Stück als Musiktheater, nicht als Oper. Pelléas und Mélisande wollen für immer zusammengehören – und gehen dabei zugrunde.
Die Volksbühne
© Steffen Kassel
Stürmische Küsse und Todesmystik
Golaud, so will es die Geschichte, lernt Mélisande (Lilith Stangenberg) im Wald kennen und macht sie nicht ohne Komplikationen zu seiner Frau. Er nimmt sie mit zu König Arkels Schloss, wo der Rest seiner Sippe ein abgeschirmtes Leben führt. Mélisande gleicht einem ätherischen Märchenwesen, das zugleich von Unbekümmertheit und Naivität geprägt ist. Das bedeutet auch: Liebe statt Ökonomie, Gefühlsintensität statt Rationalismus. Mit Golauds Halbbruder Pelléas (Thorbjörn Björnsson) versteht sie sich so gut, dass sich ihre Gefühle miteinander vermengen, bis hin zum Einklang. Nur: Kann er ihr übervolles Herz stillen? Sie scheint eine Sehnsucht nach dem Unendlichen zu verspüren. Als die beiden eng umschlungen beieinander liegen und flüchtige, aber stürmische Küsse austauschen, fragt Pelléas: "Und wenn wir nun gemeinsam sterben?" – "Umso besser." Die Vereinigung der Liebenden im Tod – das ist Todesmystik reinsten Wassers, als habe sich Maeterlinck während der Niederschrift in Wagners "Tristan und Isolde" versenkt. Was man bei dieser Inszenierung vielleicht vermisst, ist der Springbrunnen als Jugendstil-Motiv.
All das Wissen umsonst
Die Aufführung ist vor allem auch ein optischer Genuss. Die Illumination spielt eine wichtige Rolle – die Figuren werden in verschiedene Farben getaucht. In der Mitte prangt ein Flügel, am Bühnenrand ist viel abgehacktes Holz, schließlich befinden wir uns in Waldnähe. Auf der rechten Seite steht ein großer, abrissreif wirkender Holzbau, wo sich die zersprengte Familie auch mal zum Kaffeetrinken trifft. Irgendwann wird ein rostroter, in verschiedenen Nuancen changierender Vorhang hochgezogen, der den Hintergrund zum Verschwinden bringt. Lilith Stangenberg und Nurit Stark agieren zuweilen vor einen überkitschigen Landschaftsbild, das an profanes Alpenglück erinnert. Anscheinend hat der Bühnenbildner Christian Friedländer ein Faible für klassische Tiere wie Hirsche und Wildschweine, die neben einem Schlagzeug positioniert sind. Das Familienoberhaupt König Arkel, gespielt vom Volksbühnen-Fossil Hendrik Arnst, ist ein sarkastischer Lebensskeptiker, der eine stark resignative Haltung eingenommen hat und nur aufblüht bei spitz formulierten, stichelnden bis höhnischen Bemerkungen. Wenn ich Gott wäre, würde ich die Menschen bemitleiden, sagt er. Im Zwiegespräch mit Mélisande stellt er schicksalsergeben fest, dass all das angehäufte Wissen der Denker umsonst gewesen sei. Wenn man wenigstens davon zehren könnte!
Tragisches Schicksal einer uferlosen Liebe
Der Regisseur David Marton zeigt ein Aufeinanderprallen von Hochkultur und Volkskultur. Während der bewanderte Golaud und der Sprössling Yniold (Yannic Liam Gläser) klassische Musik präfererien, kann sich Mèlisande nur auf ihre Stimme verlassen, und auch Pelléas ist ein musikalischer Dilettant. Es wäre aber nun verfehlt, von einem Bündnis der Unmusikalischen zu sprechen. Lilith Stangenberg spricht ihre Worte nicht, es ist eher ein zartes Ausrufen, das zu ihrem Bühnenstilmittel geworden ist. Was an Mélisande berechnend ist, zielt nur auf die hehrsten, innigsten Gefühle ab. Mindestens fünfmal das Kostüm wechselnd, liegt sie einmal mit entblößtem Beinen auf dem Flügel herum, verführerisch, mit Worten, die unter die Haut kriechen, ganz ohne gleisnerische Absichten. Eine Diva, ein gleichsam metaphysisches Luftwesen, das, sich unschuldig und rein gerierend, wieder auf den Boden zurückkommt,. Die Harmonie mit Thorbjörn Björnsson ist vorzüglich, ähnlich wie in Martons Schottenstück. Er sitzt auf einem Hirsch und spielt Gitarre, sie steht davor und singt, als würde ein kleines Fest fürs einfache Volk zelebriert. Ausgerechnet bei einem Klaviersolo zerbirst das magische Ineinanderklingen der Seelen, Pelléas bricht wie erschlagen zusammen. Und Mélisande, unendlich gebrochen, haucht nur noch ihre letzten Worte aus. "Tristan und Isolde" mit tragischem Ende. Nun, von David Marton wird man offensichtlich nie enttäuscht.
Pelléas und Mélisande
Schauspiel mit Musik nach Maurice Maeterlinck
Regie: David Marton, Bühne: Christian Friedländer, Kostüme: Tabea Braun, Licht: Henning Steck, Musikalische Mitarbeit und Ton: Klaus Dobbrick, Dramaturgie: Anna Heesen.
Mit: Lilith Stangenberg, Thorbjörn Björnsson, Hendrik Arnst, Nurit Stark, Marie Goyette, Jan Czajkowski, Yannic Liam Gläser.
Premiere vom 14. Januar 2014
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)