Irm Hermann

© Angelika Maria Boes/Wikipedia

 

Sehr gedämpfte satirische Übertreibung

Wie gesagt, wer eine andere Musikrichtung präferiert, für den ist dieser Abend die Höchststrafe. Konterkariert wird das liebessehnsuchtsgierige Projekt durch Marthalers Hang zur Karikatur, ja zur Persiflage, die aber nicht unverhohlen, sondern eher auf Schleichwegen daherkommt. Der offene Angriff ist Marthalers Sache nicht. Er bevorzugt das Angedeutete, die leise Ironie, die gedämpfte satirische Übertreibung. Nachdem etliche Spezialisten für Herzschmalz aufgefahren wurden, lässt er auch Rammsteins "Mein Herz brennt" zum Gesang kommen, aber in einer Version von Heino. Der Marthaler-Veteran Ulrich Voß, der auch bei Castorfs Dostojewski-Inszenierungen ("Dämonen" und "Der Idiot") mitgewirkt hat, ist als Heino verkleidet und liefert eine lustige Interpretation ab. Ohnehin wird es immer dann besser, wenn Voß mit gebremsten, kalkulierten Altersschritten auf der Bühne erscheint und das Mikrophon ergreift. Die vier jungen Frauen - Tora Augestad, Altea Garrido, Olivia Grigolli und Lilith Stangenberg – nebst Urgestein Irm Hermann bestreiten die Gesangspartien, bestreiten aber nicht die Dauergültigkeit des Immerblühenden. Ist das eine belustigende Glorifizierung oder sanfter Spott? Wohl beides, doch es ist nicht originell genug. Amüsant sind die omakompatiblen Tanzbewegungen Irm Herrmanns, die ungelenken Verve vortäuscht.

 

Die Volksbühne

© Steffen Kassel

 

Die schmerzfreie, herzbewegte Sentimentalfraktion

Gleichzeitig werden auch die aktuellen Internet-Kontaktbörsen karikiert. Josef Ostendorfs Stimme aus dem Off ist eine Art Ordnungsmacht mit digitaler Kontrollfunktion, die zwecks Internettauglichkeit selbst in Irm Hermanns liebevolle, rudimentäre Blumenfürsorge eingreift. Die Verballhornung der partnerschaftsorientierten Dating-Portale ist schärfer, allerdings lassen die Texte zu wünschen übrig, sie sind eine stumpfe Waffe. Eindringliche Kniegeigen-Musik von Dirk Zeller ist eher reserviert für jene stimmungsvollen Kerzenschein-Gemüter, die etwas zur Untermalung ihrer behaglichen Mediävistik-Abende benötigen. Um das Kontrastprogramm zu optimieren, kommt auch die klassische Musik zu ihrem Recht (z.B. Purcell), doch eine positive Strahlkraft wird dadurch nicht erzeugt: Zu schwach ist die Entfaltung einer prätentiöseren, zukunftszugewandten Alternative. Und der Keyboarder Clemens Sienknecht – von Irm Hermann als Kaiborder bezeichnet – hat einige komische Auftritte, hauptsächlich beim Grimassieren. Neu ist das alles nicht, was Christoph Marthaler da bringt. Das Parodieren der Ober-Häuptlinge der schmerzfreien, herzbewegten Sentimentalfraktion geschieht nicht selten, oftmals sind derartige Bemühungen wesentlich offensiver und entlarvender. Das hätte man dem Abend auch gewünscht, aber in origineller Weise, mit mehr heiterem Mut zum Kompromittieren. Marthalers Softversion bietet domestizierte Raubtiere ohne Gebiss. So ist es ein sehr durchwachsener Abend, eher einer der schlechteren Marthaler.

Tessa Blomstedt gibt nicht auf
Ein Testsiegerportal von Christoph Marthaler und Ensemble
Regie: Christoph Marthaler, Bühne und Kostüme: Anna Viebrock, Licht: Henning Streck, Musikalische Leitung: Clemens Sienknecht, Regie-Mitarbeit: Gerhard Alt, Video: Konstantin Hapke, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Ulrich Voß, Tora Augestad, Irm Hermann, Altea Garrido, Clemens Sienknecht, Olivia Grigolli, Lilith Stangenberg, Martin Zeller, Clara Andrees, Luise Andrees, Josef Ostendorf (Stimme).

Volksbühne Berlin

Premiere am 15. Oktober 2014
Dauer: 2 Stunden, 10 Minuten, keine Pause

 

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