Historische Betrachtung

Seine Analyse von Macht baut Mead dabei am Beispiel der Vereinigten Staaten auf. Dies macht Sinn. Immerhin sind die USA, spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die einzige verbliebene Supermacht. Wenn man also verschiedene Arten der Macht sucht, dann ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass man diese beim mächtigsten Staat der Welt findet. Mead beginnt seine Analyse dann auch mit einem historischen Abriss über den Aufstieg der USA zur Weltmacht. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das britische Empire die größte globale Macht. Doch in dem Maße, in dem sich der schleichende Niedergang des Empires - verstärkt durch die beiden Weltkriege - zementierte, wuchs auch die Macht der Vereinigten Staaten. Diese hatten angesichts dieser Entwicklung drei Möglichkeiten:

  1. Sich bedingungslos hinter das britische Empire stellen und diesem wieder zu alter Macht zu verhelfen.
  2. Die Situation ignorieren und sich auf den amerikanischen Kontinent zurückziehen.
  3. Selbst die Rolle der Hegemonialmacht übernehmen und eine neue Weltordnung etablieren.

In der Zeit zwischen 1914 und 1945 versuchten die USA alle drei Optionen. Letztlich aber erwies sich nur die dritte Option als praktikabel. Dies war insofern problematisch, weil sich die Spielregeln des internationalen Systems endgültig geändert hatten. Jahrhundertelang galt Krieg als letztes Mittel der Machtpolitik. Mit dieser Einstellung waren die europäischen Mächte noch in den ersten Weltkrieg gezogen. Doch die industrielle Abnutzungsschlacht, die in den Schützengräben in Westeuropa stattfand, hatte das Denken verändert. Krieg sollte als politische Option ausscheiden, eine Ordnung etabliert werden, die dauerhaften Frieden garantiert. An dieser Aufgabe scheiterten die Staaten. Dies lag nicht zuletzt am Fehlen einer hegemonialen Macht.

Die USA etablierten nach dem ersten Weltkrieg zwar eine Nachkriegsordnung, zogen sich dann aber wieder auf den eigenen Kontinent zurück. Selbst dem, von US-Präsident Woodrow Wilson initiierten, Völkerbund traten sie nie bei. Gleichzeitig war Großbritannien nicht mächtig genug, den Frieden zu garantieren. Dies wurde erstmals in der Münchener Konferenz 1938 deutlich und zementierte sich durch den deutschen Überfall auf Polen. Die britische Regierung hatte Hitler gewarnt, dass sie einen Angriff auf Polen nicht akzeptieren würde. Dieser aber ignorierte die Drohung. Großbritannien erklärte Deutschland den Krieg, konnte aber erst sechs Jahre später, und mit Hilfe der Vereinigten Staaten, Hitler endgültig von der Macht vertreiben.

Für die Vereinigten Staaten war damit klar: Sie mussten die Rolle des Hegemon übernehmen und dabei ein dauerhaftes System etablieren, das ohne militärische Auseinandersetzungen auskommt. Tatsächlich ist ihnen das besser und dauerhafter gelungen, als dies damals realistischerweise zu erwarten war. Noch heute existieren und funktionieren die damals geschaffenen internationalen Organisationen, der internationale Handel wächst, die wirtschaftliche Verflechtung und die Globalisierung nehmen immer weiter zu. Zwar ist es nicht gelungen sämtliche Kriege zu vermeiden. Doch immerhin kam es nicht zu einer erneuten, direkten Konfrontation der Großmächte.

Die Unterscheidung von Hard und Soft Power

Joseph S. Nye Jr. ist es zu verdanken, dass er, angesichts dieser neuen weltpolitischen Lage, die Unterscheidung zwischen Hard- und Softpower etablierte.

Unter Hardpower verstand er dabei militärische und wirtschaftliche Macht, die andere Staaten zu einer bestimmten Handlung zwingt. Als Beispiel könnte man hier die Drohung eines Militärschlags gegen Syriens Machthaber Assad anbringen. Dieser erklärte sich angesichts dieser Drohung bereit, die Chemiewaffen des Landes vernichten zu lassen. Auch die wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Iran können hier als Beispiel dienen. Diese zwangen das iranische Regime zurück an den Verhandlungstisch.

Softpower hingegen ist die Macht von Ideen und Idealen, von Werten und Beispielen und von Kultur und Entertainment. Diese wirkt subtiler. In letzter Konsequenz führt sie dazu, dass andere Staaten von sich aus wollen, was auch der Hegemon will. Konkrete Beispiele hierfür sind schwerer zu benennen. Ein Beispiel wäre die internationale Solidarität und Unterstützung, die die USA nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 erhalten hat. Viele Leute und Regierungen hatten das Gefühl, dass hier nicht nur die USA angegriffen wurden, sondern auch die Ideale der Demokratie, der Menschenrechte und der individuellen Freiheit. Es war nicht zuletzt das mangelnde Verständnis dieser Soft-Power durch die Bush-Regierung, die zum Scheitern in Afghanistan und im Irak führten.

Diese Unterscheidung lieferte also eine wichtige Erkenntnis im Verständnis von Macht. Sie ist aber noch nicht trennscharf genug. Denn es gibt natürlich Staaten, die über enorme wirtschaftliche Macht verfügen, ohne aber ernsthafte militärische Macht zu besitzen. Genauso existiert der umgekehrte Fall. Die Schweiz beispielsweise hat dem deutschen Drängen auf eine Lockerung des Bankgeheimnisses nicht zugestimmt, weil ansonsten die deutsche Kavallerie eingefallen wäre. Es war die Angst vor Belastungen für die deutsch-schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen. Gleichzeitig hat Armenien nicht auf ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union verzichtet, weil man den russischen Markt so interessant fand. Vielmehr hofft man im Fall einer Eskalation des Bergkarabachkonflikts auf militärische Unterstützung der russischen Armee.

Sharp Power, Sticky Power, Sweet Power und Hegemonic Power

Walter Russell Mead ging daher in seiner Analyse noch einen Schritt weiter. Er unterscheidet vier Arten von Macht: Militärische Macht ("Sharp Power"), wirtschaftliche Macht ("Sticky Power"), Soft Power ("Sweet Power") und hegemoniale Macht ("Hegemonic Power"). Er erklärte diese verschiedenen Arten von Macht dabei stets am Beispiel des Systems, das die Vereinigten Staaten nach dem 2. Weltkrieg etablierten.

Militärische Macht

Die USA entwickelten drei Ziele, die sie mit ihrer militärischen Stärke erreichen wollten:

  1. Zunächst einmal definierten sie den eigenen Kontinent als exklusive Einflusssphäre. Zwischen Alaska und Chile sollte es keine anderen interkontinentalen Allianzen, keine fremden Militärstützpunkte und keine Machtspiele anderer Mächte geben. Die Geographie kam den Vereinigten Staaten dabei natürlich zu Gute.
  2. Gleichzeitig stellte die Sicherung der internationalen Flug- und Seerouten einen Eckpfeiler der Strategie dar. Dies erfüllte einen doppelten Zweck. In Friedenszeiten legten diese Handelsrouten den Grundstein für die wirtschaftliche Macht der USA, in Kriegszeiten waren sie vital für den globalen Einsatz der US-Armee.
  3. Zudem wurde der mittlere Osten zur zentralen, strategischen Region. Einerseits lag dies natürlich daran, dass die dort lagernden Öl- und Gasvorräte ein wichtiges Schmiermittel für die amerikanische Wirtschaft darstellte. Doch die Überlegungen gingen weit darüber hinaus. Unter allen Umständen sollte ein Ringen verschiedener Mächte um das Öl verhindert werden. Deswegen haben die USA die Region strategisch unter ihre Kontrolle gebracht und für eine weltweite Verfügbarkeit der Öllieferungen gesorgt.

Um diese Ziele zu erreichen etablierten die USA ein weltweites Netz an Stützpunkten. Auf jedem Kontinent der Welt sind US-Soldaten stationiert. Gleichzeitig wurde eine enorme Flotte an Kriegsschiffen, Transportflugzeugen und Flugzeugträgern aufgebaut. Diese sichern die globale Einsatzfähigkeit der US-Armee. Das Ziel ist nicht nur die militärisch stärkste Macht weltweit zu sein, sondern militärisch derart mächtig zu sein, dass andere Staaten nicht nur von einem konkreten Angriff abgeschreckt werden - auch ein langfristiges Aufrüsten soll sinnlos erscheinen.

Wirtschaftliche Macht

Das Ziel der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg war es ein internationales Wirtschaftssystem zu etablieren, von dem im Idealfall alle Staaten profitieren. Zumindest aber sollten die Kosten für ein Fernbleiben vom System oder ein Aussteigen aus dem System höher sein, als die der Teilnahme. Die USA gründeten ihr System dabei auf zwei Pfeilern:

  1. Ein internationales Geldsystem mit dem Dollar als Leitwährung. Die Bretton-Woods-Vereinbarungen etablierten den Dollar als zentrale Leitwährung. Diese Rolle behielt die Währung auch nach dem Zusammenbruch des Bretton-Wood-Systems.
  2. Freier Handel. Internationale Institutionen wurden gegründet, die Bedingungen für einen fairen internationalen Handel etablieren und sichern sollten. Neben der World Trade Organization (WTO) sind in diesem Zusammenhang auch der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank zu nennen. Die USA öffneten dabei ihren eigenen Markt konsequent für Produkte anderer Staaten und finanzierten mit einem chronischen Handelsdefizit den Aufstieg vieler anderer Staaten: Die Bundesrepublik, Japan, die asiatischen Tigerstaaten und zuletzt China gründeten ihren jeweiligen Aufschwung immer auf eine extrem starke Exportwirtschaft. Gleichzeitig sorgt das Handelsdefizit dafür, dass auch die aufstrebenden Mächte ein Interesse am Erhalt des Status Quo besitzen.

Soft Power

Mead definiert diese als die Anziehungskraft der amerikanischen Ideale, Kultur und Werte. Einerseits geht es dabei um von den USA vertretene Ideale. Das Konzept der Demokratie, der Menschenrechte und der individuellen Freiheit haben eine weltweite Anziehungskraft. Gleichzeitig hat es die US-Unterhaltungsindustrie geschafft eine weltweite Bedeutung zu erlangen. Elvis Presley, World Disney oder Marilyn Monroe waren weltweite Ikonen und brachten Menschen auf der ganzen Welt mit den USA in Kontakt. Auch das Konzept des "Amerikanischen Traums" fällt unter die Kategorie Soft Power. Millionen Leute träumen überall auf der Welt von einem besseren Leben in den USA. Gleichzeitig sind diejenigen, die es in die USA schaffen – sei es als Austauschstudent, als Mitarbeiter von US-Firmen oder als Immigranten – wichtige Multiplikatoren. Auch die private Stiftungstätigkeit international bekannter US-Bürger – etwa Bill Gates – gehört zur Soft Power der USA.

Hegemoniale Macht

Wenn es einem Staat gelingt, in diesen drei Macht-Kategorien die Führung zu übernehmen, kommt es zur hegemonialen Macht. Diese stellt dabei mehr als die Summe der einzelnen Machtbereiche dar. Vielmehr ist hegemoniale Macht, der Zustand, in dem das von einem Hegemon etablierte System als wünschenswert, unvermeidlich und dauerhaft erscheint. Die Macht des Hegemons ist so groß, dass die von ihm etablierte Ordnung als selbstverständlich hingenommen wird. Es ist eine weitaus größere Macht, als die der klassischen militärischen Überlegenheit. Sie ist aber historisch betrachtet nicht von unendlicher Natur. Sobald die Macht in den ersten drei Kategorien zu erodieren beginnt, gerät auch das hegemoniale System langsam in Gefahr. Bei allen Schwächen, die die USA zuletzt zeigten, ist man von diesem Punkt aber noch weit entfernt.

Quelle: Walter Russell Mead: "Power, Terror, Peace, and War: America's Grand Strategy in a World at Risk", Vintage Verlag, 2005.

 

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