Was geschieht im Gehirn bei Nahtoderlebnissen?
Die Deutung von Nahtoderlebnissen spaltet die Wissenschaft. Für viele Wissenschaftlicher sind sie rein physische Vorgänge. Für wissenschaftliche "Querdenker" sind sie Belege für ein Leben nach dem TodDie Fortdauer von Hirnfunktionen
Ein Vertreter der "naturwissenschaftlichen Orthodoxie" ist der Wiener Neurologe Roland Beisteiner. Beisteiner geht davon aus, dass zwar während eines Herzstillstands große Teile des Gehirns nicht mehr ordnungsgemäß arbeiten, dass aber einige Hirnareale in gewissem Ausmaß doch noch funktionieren und die Nahtoderfahrungen produzieren. Auch während eines Herzstillstands ist also Beisteiner zufolge das Gehirn nicht völlig funktionslos und kann noch erinnerungsfähige Eindrücke generieren. Für das Vorhandensein solcher Restaktivitäten im Gehirn sprechen seiner Meinung nach Ergebnisse von Studien, denen zufolge der Blutsauerstoffgehalt bei Patienten mit Nahtoderfahrungen höher sein könnte als bei denjenigen ohne Nahtoderfahrungen. Das heißt: Mehr Sauerstoff im Blut während der Reanimation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Teile des Gehirns während der Reanimation noch funktionieren. Das größte Problem besteht für Beisteiner darin, dass diese Funktionen mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden physiologischen Methoden nicht erfassbar sind. Beisteiner nimmt also an, dass selbst bei hirntoten Menschen tief im Gehirn, den Messgeräten verborgen, noch einzelne Neuronenverbände aktiv sein könnten.
Nahtoderlebnisse als komplexe Halluzinationen
Auch nach Ansicht des Bonner Hirnforschers Christian Hoppe deuten Nahtoderlebnisse daraufhin, dass das Gehirn der Betroffenen immer noch in gewisser Weise funktioniert. Man müsse deshalb zur Kenntnis nehmen, dass die Betroffenen niemals wirklich tot waren, auch nicht ein bisschen. Wer Erlebnisse berichten könne, erfülle nicht das Mindestkriterium des Todes: den unwiderruflichen Verlust aller Hirnfunktionen. Speziell die außerkörperlichen Erlebnisse und die Lichterscheinungen, über die die Betroffenen berichten, könnten seiner Meinung nach als Folge der Störung bestimmter Hirnfunktionen auftreten. Hirnregionen, die eine Rolle im Belohnungssystem spielen, könnten die intensiven, meist positiven Gefühlszustände auslösen, die Betroffene während einer Nahtoderfahrung häufig erleben. Es wäre zumindest denkbar, dass das Gehirn in katastrophalen Situationen paradox reagiere und Glückshormone ausschütte - so Hoppe. Eine Art Tunnel-Licht-Erfahrung mit Rückschau auf ihr Leben durchliefen zudem auch Astronauten, die in einer stark beschleunigten Zentrifuge trainieren. Nahtoderlebnisse sind deshalb für ihn komplexe Halluzinationen – eine Reise in unsere eigene Bewusstseinswelt im Zwischenreich zwischen Wachzustand und Bewusstlosigkeit. Diese Halluzinationen könnten hervorgerufen werden durch Sauerstoffmangel im Gehirn oder durch die Ausschüttung von Stresshormonen in Extremsituationen. Aber auch Drogen oder Medikamente, wie das Narkosemittel Ketamin, könnten solche Halluzinationen auslösen.
Visionen (Bild: geralt/Pixabay.com)
Visionen (Bild: geralt/Pixabay.com)
Denken ohne Gehirn
Als Vertreter der Gegenposition möchte ich zunächst den Arzt und Nahtodforscher Michael Sabom vorstellen, dem 1991 der große wissenschaftliche Durchbruch gelang, und zwar durch die Vorgänge während der Operation an der 35-jährigen Pam Reynolds. So musste Reynolds am Gehirn operiert werden. Ihr Blut wurde aus dem Gehirn abgeleitet. Sie wurde in einen Kälteschlaf versetzt. Ihr Kopf wurde mit Messgeräten verkabelt. Es wurde klar festgestellt, dass in dieser halben Stunde in ihrem Gehirn keine Gehirnströme flossen. Die Denktätigkeit war blockiert. Eine Hormonausschüttung war nicht mehr möglich. Halluzinationen konnten nicht mehr geschehen. Und genau in dieser Zeit hatte Pam Reynolds äußerst eindrucksvolle Nahtoderlebnisse. Hier konnte also erstmalig mit modernen Messgeräten nachgewiesen werden, dass das Bewusstsein eines Menschen auch dann denken kann, wenn das Gehirn materiell ausgeschaltet ist.
Das Zusammenspiel von Gehirn und höherer Wahrnehmung
Für den Aachener Mediziner Walter van Laack – er ist ein weiterer Vertreter der Gegenposition - kommt es deshalb zu komplexen Bewusstseinszuständen und detaillierten Wahrnehmungen, während gleichzeitig keinerlei Hirnaktivität mehr gemessen werden kann, weil hier ein außerkörperliches Bewusstsein, eine nicht empirisch erklärbare höhere Wahrnehmung, in Aktion tritt. Diese und das Gehirn spielen seiner Meinung nach zusammen. Diese Wahrnehmung funktioniere nach einem auslösenden Reiz aber auch ohne Gehirn. Dafür wäre vielleicht die Substanz Dimethytryptamin (DMT) mitverantwortlich, die von einer Hirndrüse, der Epiphyse, ausgeschüttet wird. Diese kann wie eine Droge Halluzinationen hervorrufen. Schüttet aber das Gehirn diese Substanz während einer Todesgefahr oder in besonderen Stresssituationen aus, könne es auch zu dem Peak kommen, also einem steilen Anstieg der Hirnaktivität kurz nach Eintreten des Herzstillstands, den Wissenschaftler im Gehirn von Ratten (und 2009 auch bei Menschen) festgestellt haben. Vielleicht sei dies eine Art Schnittstelle, durch die das Gehirn seine Filterfunktion verliere und die außerkörperliche Wahrnehmung provoziere - so van Laack. Demnach wäre der Peak die letzte Gehirnaktivität, bevor das Denkorgan seine Arbeit einstellt und eine Art Seele den Körper des Menschen verlässt.
Das Gehirn als Teilchen – das Bewusstsein als Welle
Der Niederländer Pim van Lommel, Kardiologe und einer der weltweit führenden Nahtodforscher, hat die These, dass das Bewusstsein auch unabhängig vom Gehirn existieren kann, dass das Bewusstsein bereits vor der Geburt eines Menschen existiert und auch nach seinem Tod fortbesteht, mit Hilfe der Quantenphysik zu erhärten versucht. So können sich der Quantenphysik zufolge Teilchen wie Wellen verhalten und Wellen wie Teilchen. Jener Teil des menschlichen Bewusstseins, der an das Gehirn gebunden ist, spekuliert van Lommel, entspricht dem Teilchen-Aspekt. Wenn wir sterben – so van Lommel weiter - nimmt das Bewusstsein wieder Wellencharakter an. Das Bewusstsein ist demnach nichts anderes als ein "Informations-Feld" elektromagnetischer Wellen. Doch so wie wir die elektromagnetischen Wellen von Fernsehstationen nur empfangen können, wenn wir den Fernseher aufdrehen, ist das Gehirn, wie van Lommel betont, gleichsam der "Empfänger" unseres Bewusstseins.
Das Gehirn als Rezeptor (Bild: OpenClips/Pixabay.com)
Das Bewusstsein als Welle (Bild: OpenClips/Pixabay.com)
Die "Sterbesoftware" im Gehirn
Der Heidelberger Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Michael Schröter-Kunhardt versucht, die Position der naturwissenschaftlichen Orthodoxie und die spirituell-transzendentale Sichtweise auf Nahtoderlebnisse sozusagen "unter einen Hut zu bringen". Und zwar sind für ihn Nahtoderfahrungen eine Sonderform von archetypischen, also transkulturell ähnlichen, Träumen und als solche ein Beleg dafür, dass es im menschlichen Gehirn ein vorinstalliertes, standardisiertes Sterbeerfahrungsprogramm gibt. Nahtoderfahrungen seien mit anderen Worten Teil einer Endprogrammierung im Gehirn, durch die das Gehirn Sterben und ein Weiterleben nach dem Tod simuliere. Dieses Simulationsprogramm gehe aber wahrscheinlich - wie Schröter-Kunhardt betont - in ein echtes Programm über, dann verlasse irgendetwas wirklich das Gehirn und könne ohne die Sinnesorgane, also außersinnlich, wahrnehmen. Für Schröter-Kunhardt werden also die Nahtoderfahrungen von einer "Sterbesoftware" im Gehirn produziert, um den Sterbenden sozusagen auf das Leben im Jenseits vorzubereiten. Das heißt: Aus den Traumbildern von einem Leben nach dem Tod wird irgendwann Realität. Ein Beispiel für das wirkliche Existieren der außersinnlichen Wahrnehmung ist nach Ansicht von Schröter-Kunhardt der Fall einer Patientin, die, als sie im Krankenhaus lag, ihren Sohn in einem ihr fremden Haus an einem 400 Kilometer weit entfernten Ort, den sie nicht kannte, sah und ihm ein Jahr später zeigen konnte, auf welchem Stuhl er gesessen hatte. Nahtoderfahrungen seien jedoch – wie Schröter-Kunhardt betont – kein Beweis dafür, dass das Bewusstsein unsterblich sei und unabhängig vom Gehirn. Das sei alles Unsinn. Diese Erfahrungen würden zwar auf etwas Unsterbliches verweisen, würden aber noch vom Gehirn produziert.
Bewusstsein und Quantengedächtnis
Auch der Physiker Dieter Schuster versucht, eine orthodox naturwissenschaftliche Position mit der Vorstellung von einem Weiterleben nach dem Tod zu verbinden. Und zwar beruhen seine Überlegungen auf dem aus der Quantenphysik stammenden Konzept des Quantengedächtnisses, wonach es neben dem Universum aus Raum und Materie noch eine Welt gibt, die aus reiner Information besteht, genauer: aus einer riesigen Zahl miteinander verbundener kleiner Infowelten, die den Charakter eines Gedächtnisses haben. Dieses Quantengedächtnis bewirke die Bildung von Bewusstsein. Das heißt: Bewusstsein entstehe, wenn in den Synapsen des Gehirns neue Moleküle gebildet würden, und dies erfolge durch einen Informationsfluss aus dem Quantengedächtnis. Es sei somit dieser Informationsfluss aus dem Quantengedächtnis, aus den Infowelten, der Bewusstsein erzeuge. Jeder Mensch verfüge folglich über einen individuellen Anteil am Quantengedächtnis als Basis seines Ich-Bewusstseins, seiner persönlichen Identität. Da aber das individuelle Quantengedächtnis nicht an Raum und Materie gebunden sei, sei es im Gegensatz zum menschlichen Körper unvergänglich. Es sei überall im Universum vorhanden und deshalb unsterblich. Daher könne man es – so Schuster – als das betrachten, was immer als unsterbliche Seele des Menschen bezeichnet worden sei. Und aufgrund dieser Unsterblichkeit des Quantengedächtnisses könne das Ich-Bewusstsein jedes Menschen nach dem Tod rekonstruiert werden, und ein neues Leben könne beginnen.
Informationsblitz (Bild: OpenClips/Pixabay.com)
Informationsfluss (Bild: geralt/Pixabay.com)
Die Vorgänge auf dem Jenseitsplaneten
Da auf der Erde momentan definitiv kein Leben nach dem Tod stattfinde, gemäß den Nahtoderfahrungen das neue Leben aber direkt beim Tod starte, müsse der "Auferstehungsprozess" – wie Schuster betont – auf einem fernen Planeten stattfinden, wo eine Zivilisation beheimatet sei, die die Technologie für das Leben nach dem Tod schon jetzt beherrsche. Ferner sei es sehr wahrscheinlich, dass diese mit anderen fortgeschrittenen Zivilisationen ein Netzwerk bilde und mit diesen die "Planetenvergabe" abspreche. Und zwar starten – so Schuster - auf dem für die Erdbewohner "reservierten Planeten" sofort, wenn ein Mensch sterbe und infolgedessen registriert werde, dass sich sein persönliches Quantengedächtnis nicht mehr verändere, die Prozesse, die zu einem neuen Leben führen. Zunächst wird die Rekonstruktion des Ich-Bewusstseins des Verstorbenen in Angriff genommen. Da aber – hier folgt Schuster der naturwissenschaftlichen Orthodoxie - das Bewusstsein nicht unabhängig vom Gehirn funktionieren könne, das alte Gehirn aber mit dem Tod abgestorben sei, könne die Rekonstruktion des Ich-Bewusstseins nur gelingen, wenn der Verstorbene ein neues Gehirn erhalte. Schuster geht deshalb auch davon aus, dass die Nahtoderfahrungen bereits mit dem neuen Gehirn gemacht werden, das sich auf dem Jenseitsplaneten mit dem Eintritt des Todes gebildet hat. Auch das sich Erinnern an die Nahtoderfahrungen ist Schuster zufolge nur möglich mit einem funktionierenden, und das heißt, mit einem neuen Gehirn. Dafür, dass die in ihr irdisches Leben Zurückgekehrten bereits über ein neues Gehirn verfügen, spricht aus seiner Sicht auch, dass sie stark verändert erscheinen und ihr irdisches Leben völlig "umkrempeln".
Schlussfolgerungen
Zunächst möchte ich dem Argument der Anhänger der naturwissenschaftlichen Orthodoxie, dass für hirntot Erklärte, die wiederbelebt werden konnten, nicht wirklich tot waren, entgegenhalten, dass die Feststellung des Hirntods üblicherweise zur Entnahme der Organe für Transplantationen schon ausreicht. Um als Organspender dienen zu können, sind also Hirntote "tot genug". Die Anhänger der Orthodoxie müssten auch mal - um die Forderung eines Kritikers aufzugreifen - erklären, wie komplexes visuelles und auditives Erleben, wie es für Nahtoderfahrungen typisch ist, ohne die volle Funktionsfähigkeit des Großhirns erfolgen soll, ob dieses Erleben wirklich das Ergebnis chaotischer Restaktivitäten im Gehirn oder das Produkt gestresster Neuronenverbände, ausgelöst durch die Unterversorgung mit Sauerstoff, sein kann. Mich haben auch die Berichte über Personen sehr beeindruckt, die blind waren und bei ihren Nahtoderlebnissen auf einmal sehen konnten.Da allerdings bisher weder bewiesen werden kann, dass es ein Weiterleben nach dem Tod gibt, noch bewiesen werden kann, dass der Tod wirklich das Ende allen Lebens ist, bleibt dies letztlich die persönliche Glaubensentscheidung jedes Einzelnen. Es ist allerdings bemerkenswert, dass Nahtoderfahrungen und die damit einhergehenden außersinnlichen Wahrnehmungen bei den Betroffenen den Glauben an ein Leben nach dem Tod bestärken. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod erscheint deshalb glaubwürdiger als der Unglaube.
Bildnachweis
Alle Bilder: Pixabay.com