Vorstellungen von Charisma

In der griechischen Mythologie ist "Charisma" Sinnbild der drei Charites, der Göttinnen der Freude, der Anmut, der Fruchtbarkeit und Feste und bedeutet wortwörtlich "Gnadengabe". Im Christentum bezieht sich Charisma auf Gaben und Fähigkeiten, die durch den Geist Gottes bewirkt oder geweckt werden. Und zwar hat dieser Geist beim Pfingstwunder die Versammlung der gläubigen Anhänger Jesu ergriffen und sie, wie es in der Bibel geschildert wird, dazu befähigt, in fremden Sprachen zu sprechen, Kranke zu heilen, Wunder zu vollbringen. Mit der modernen Auffassung von Charisma als besondere Ausstrahlung eines Menschen ist eine innere Qualität gemeint, die sich außen präsentiert. Das heißt: Das Innere eines Menschen, seine Persönlichkeit, sein "Wesen", strahlt von innen nach außen. Die Ausstrahlung eines charismatischen Menschen ist damit die Brücke zwischen seinem inneren Zustand und seiner äußeren Erscheinung. Man kann auch sagen, dass bei einem charismatischen Menschen eine harmonische Verbindung besteht zwischen seinem inneren und seinem äußeren Bild.

Die spezifischen Eigenschaften charismatischer Menschen

Die Ausstrahlung charismatischer Menschen beruht darauf, dass sie sich im Inneren im Gleichgewicht befinden. Charismatische Menschen ruhen also in sich selbst und strahlen diese innere Ruhe auch aus. Eine solche innere Balance geht wiederum einher mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften. So verfügen charismatische Menschen über ein stabiles und intensives Selbstwertgefühl und damit auch über ein hohes Maß an Selbstvertrauen. Charismatische Menschen sind sich also ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten bewusst. Ein weiteres wichtiges Merkmal der Charismatiker ist Authentizität. Das heißt: Das, was sie sagen, das meinen sie auch. Durch ihre Aktivitäten und ihr Verhalten stützen sie ihre Aussagen und wirken dadurch glaubwürdig. Ferner haben charismatische Menschen – und das ist von grundlegender Bedeutung - eine Vision. Und zwar zeigen Visionen den bestmöglichen Zustand an, das gelöste Problem, das Ideal und gehen damit den Zielen, die erreicht werden sollen, voraus. Ein Charismatiker ist also immer auch ein Visionär. Insgesamt gesehen besitzen Charismatiker eine auf persönlicher Ausstrahlung gegründete besondere Form der Autorität.

Der Charismatiker und "die anderen"

Da Charismatiker ein feines Gespür für die Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte ihrer Mitmenschen haben, sprechen sie genau diese mit einer intuitiven Sicherheit an. Charismatiker argumentieren also in erster Linie emotional und treffen dabei den richtigen Ton. Menschen empfinden folglich starke, intensive Gefühle, wenn sie mit einem Charismatiker konfrontiert werden, und das ist die Voraussetzung dafür, dass dieser andere Menschen mit seiner Begeisterung für bestimmte Ideen und Projekte anstecken, sie auf seine Vision sozusagen einschwören kann. Charismatiker besitzen somit ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz und damit auch an sozialer Kompetenz. Hinzu kommt, dass ein Charismatiker den Eindruck erweckt, für das Erreichen der eigenen Ziele notfalls auch einen hohen Preis zahlen zu wollen. Dieses leidenschaftliche Streben spüren die Menschen und nehmen es ernst. Ferner können Charismatiker meist gut zuhören und sehr bildhaft sprechen, so dass sie Zuhörern ihre Pläne genau vermitteln können. In vielen Fällen muss jedoch ein Charismatiker nicht viele Worte machen, er muss nicht einmal "ein großer Redner" sein, weil aufgrund seiner Authentizität, der Übereinstimmung zwischen Reden und Handeln, seine Botschaft direkt die Herzen seiner Zuhörer erreicht. Aufgrund dieser besonderen Fähigkeiten können Charismatiker viele Menschen faszinieren, von ihren Anliegen überzeugen und taugen infolgedessen zum Anführer, zum Politiker, zur Führungskraft. Der Führungsstil von Charismatikern beruht jedoch nicht auf Angst oder Druck, sondern ist getragen von Nächstenliebe und Mitgefühl. Dazu gehört, dass sie ihren Mitstreitern Hoffnung vermitteln, Mut machen und sie dazu anregen, sich weiterzuentwickeln. Charismatiker motivieren andere folglich nicht aus Eigennutz. Der Charismatiker braucht aber auch die anderen und ihre Resonanz, damit sich sein Charisma überhaupt entfalten kann. Um wirken zu können, benötigt Charisma mit anderen Worten die zwischenmenschliche Interaktion.

Kann Charisma missbraucht werden?

In der Wissenschaft wird immer wieder das Entstehen autoritärer bzw. faschistischer politischer Bewegungen mit dem Auftreten angeblich charismatischer Personen in Verbindung gebracht. Das heißt: Es wird behauptet, an der Spitze solcher Bewegungen stünden charismatische Führer. Sozusagen als Paradebeispiel dafür wird immer wieder Adolf Hitler genannt, der bekanntlich durch den Versuch, seine "Visionen" zu verwirklichen, die gesamte Menschheit ins Unglück gestürzt hat. In diesem Zusammenhang ist auch die Rede davon, dass Hitler sein Charisma missbraucht habe. Hier wird also die Auffassung vertreten, dass ein Charismatiker seine besondere Ausstrahlung dazu nutzen kann, um seine Anhänger zu manipulieren. Und zwar beruht diese eher negative Vorstellung von Charisma auf dem Typus charismatischer Herrschaft, wie ihn der Soziologe Max Weber definiert hat. Danach übt ein Mensch dann charismatische Herrschaft aus, wenn er von anderen aufgrund bestimmter Fähigkeiten als gottgesandt oder vorbildlich betrachtet und deshalb als "Führer" akzeptiert wird, so dass sie bereit sind, vom Charismaträger Befehle anzunehmen und sich damit in die Rolle der charismatisch Beherrschten zu begeben.

Kann Herrschaft überhaupt auf Charisma beruhen?

Für mich stellt sich hier die Frage, ob eine Herrschaft, die auf dem Charisma der Herrschenden beruht, überhaupt vorstellbar ist, ob angesichts der positiven Intentionen, die, wie ich gezeigt habe, mit Charisma verbunden sind, die Vorstellung von charismatischer Herrschaft nicht ein Widerspruch in sich ist. Meiner Meinung nach handelt es sich hier um eine Form der Herrschaft, bei der die Herrschenden ihre besonderen Fähigkeiten nur vortäuschen und de facto gar keine Charismatiker sind. Hier geht es also darum, dass die Anhänger eines Politikers glauben bzw. glauben möchten, dass dieser außergewöhnliche Fähigkeiten besitzt, während dies in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Wie dieser Mechanismus funktioniert, zeigen im 21. Jahrhundert die Erfolge der Anführer populistischer oder auch nationalistischer Bewegungen. Auch Hitler konnte sich erst durch seine Inszenierung von Politik als "große Oper", aber auch durch geschickte Propaganda, als scheinbarer Charismatiker profilieren. Man muss folglich unterscheiden zwischen einem "echten" und einem "unechten" Charisma.

Der echte und der unechte Charismatiker

Den unechten Charismatiker erkennt man daran, dass er anderen "nach dem Munde redet", während der echte Charismatiker nur über Dinge spricht, an die er glaubt. Das bedeutet auch, dass der echte Charismatiker mitunter unpopuläre Meinungen vertritt. Er agiert also gerade nicht populistisch. Von einem echten Charismatiker wird man zudem positiv emotional berührt. Man spürt, dass er Gutes will. Der echte Charismatiker wertet niemals andere Menschen ab, nur weil sie einer anderen Bevölkerungsschicht, einer ethnischen Minderheit oder einem anderen Geschlecht angehören, während der unechte Charismatiker rassistisch und chauvinistisch argumentiert. Der echte Charismatiker weiß auch, dass sich andere Menschen ungern dominieren lassen, während der unechte Charismatiker ein "Machtmensch" ist. In diesem Zusammenhang ist natürlich wiederum zu fragen, wie es möglich ist, dass Menschen sich für Politiker begeistern können, deren innere Haltung und Auftreten mit dem, was man unter Charisma versteht, nicht das Geringste zu tun haben, die vielmehr auf billige Effekthascherei setzen und eine negative, unangenehme Ausstrahlung haben, so dass man sie eher als "Anti-Charismatiker" einstufen müsste. Man könnte dies so erklären, dass Menschen, die stark verunsichert sind und unter Zukunftsängsten leiden, "quasi nach jedem Strohhalm greifen" und deshalb auf Politiker hereinfallen, die sich wie Charismatiker gebärden, also scheinbar die Sorgen und Nöte der Menschen im Blick haben - während sie in Wirklichkeit nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Als geeignetes Gegenmittel dazu könnte man sich das Auftreten wirklicher Charismatiker vorstellen, die die Massen mit begeisternden, menschenfreundlichen Visionen von ihrem Irrweg abbringen.

Kann man sich eine charismatische Ausstrahlung aneignen?

Zum Schluss möchte ich noch die Frage aufgreifen, ob Charisma angeboren ist oder ob man es erlernen kann. Dazu ist zunächst festzustellen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die Charisma bei ihrer Geburt sozusagen als "Gnadengabe" erhalten und sich dadurch von Anfang an von anderen Menschen unterscheiden. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sich jeder sozusagen eine gewisse Portion Charisma aneignen kann. Dabei ist der Erwerb bzw. die Stärkung der Persönlichkeitsmerkmale, die das "Wesen" des Charisma ausmachen, natürlich die Leitlinie des "Lernprogramms". Von besonderer Bedeutung sind demnach 1. der Aufbau von Selbstliebe und Liebe zum Leben als Basis von Selbstbewusstsein sowie Selbstvertrauen und als Basis von Mitmenschlichkeit, 2. die Entwicklung einer Vision, also von Zielvorstellungen, die man erreichen, Träumen, die man verwirklichen möchte, 3. das Bemühen um Authentizität als Übereinstimmung von Reden und Handeln. Um Charisma zu besitzen und einzusetzen, muss man mit anderen Worten die eigenen Fähigkeiten kennen, mit Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit eine Lebensidee verfolgen, seine persönliche Entwicklung aktiv fördern sowie über innere Harmonie verfügen und anderen Menschen in positiver Weise zugewandt sein. Dabei ist es wichtig, die eigenen Stärken und Schwächen genau zu kennen. Bei der Erlangung von Charisma geht es folglich um eine intensive Beschäftigung mit sich selbst. Im Grunde genommen ist es eine lebenslange Herausforderung. Denn Charisma kann wieder verblassen oder sogar ganz erlöschen - das zeigt gerade der Bereich der Politik.

Fazit

Ich habe versucht zu zeigen, dass Charisma eine sehr positiv zu bewertende Geisteshaltung bzw. Lebenseinstellung ist, die Menschen an den Tag legen, die eine begeisternde Lebensidee zu verwirklichen versuchen, aber dabei nicht nur ihr eigenes, sondern auch das Wohl ihrer Mitmenschen im Auge haben. Die Behauptung, es gäbe Politiker, die zwar charismatisch seien, aber nicht gerade menschenfreundliche Ziele verfolgen und ihr Charisma einsetzen würden, um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben, ist daher Ausdruck von Unkenntnis dessen, was eigentlich Charisma ist. Man kann es mit anderen Worten nur als ein riesengroßes Missverständnis bezeichnen, wenn jemand einen skrupellosen Despoten, der die Menschenrechte mit Füßen tritt, als charismatisch bezeichnet.

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