Unstillbarkeit und Ambivalenz von Sehnsucht

Sehnsucht ist ein starker Wunsch, ein tiefes Verlangen nach etwas. Man kann auch sagen, dass sich hier die Seele direkt zu Wort meldet. Aber dieses Verlangen der Seele kann nie wirklich und dauerhaft gestillt werden. Es gibt also auch dann, wenn man alles erreicht, wonach man sich mit allen Fasern seines Herzens sehnt, nie eine letzte Erfüllung, weil Sehnsucht immer wieder von Neuem geweckt wird.

Hinzu kommt die Ambivalenz der Sehnsucht, das Zusammenwirken positiver und negativer Emotionen. Das heißt: Das Ersehnte löst positive Gefühle und Fantasien aus, aber weil es abwesend und nicht sofort oder vielleicht gar nicht erreichbar ist, erzeugt es gleichzeitig negative Gefühle. Sehnsucht wird deshalb auch als bittersüß, als lustvolles Leiden beschrieben. Wenn die Leiderfahrung überwiegt, kann aus Sehnsucht Melancholie werden und schließlich sogar Depression. Der Betroffene verzehrt sich hier vor Sehnsucht. Im Extremfall führt dies zu einer Todessehnsucht. Bei starker Leiderfahrung kann Sehnsucht aber auch zu einer regelrechten Sucht entarten. In diesem Fall wird die Unstillbarkeit der Sehnsucht durch den Konsum von Drogen kompensiert.

Arten von Sehnsüchten

Sehnsüchte können sich auf unterschiedliche Aspekte unserer Lebenswelt beziehen. So ist die Sehnsucht nach der heilen Welt - die in der Weihnachtszeit deutlich wird - das Paradebeispiel für eine Sehnsucht, die nicht nur den einzelnen Menschen betrifft, sondern ein globales bzw. universelles Verlangen darstellt. Dann gibt es Sehnsüchte, die unsere natürliche Umwelt zum Gegenstand haben. Hier geht es beispielsweise um die Sehnsucht nach Sonne und Wärme, nach dem Frühling oder nach dem Meer. Ein anderer Gegenstandsbereich von Sehnsüchten sind unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Dieser Gegenstandsbereich ist vielleicht besonders wichtig, weil es hier um unsere Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, nach Anerkennung und Freundschaft geht. - Auch in diesem Kontext erhält das Weihnachtsfest eine besondere Bedeutung. - Nicht minder wichtig ist aber auch die – auf die eigene Person bezogene – Sehnsucht nach Identität, nach Entfaltung der eigenen, unverwechselbaren Persönlichkeit und ihrer Potenziale, sowie nach Selbstbestimmung. Religiöse Menschen können aber auch eine starke Sehnsucht nach Gott verspüren, was wiederum auf Weihnachten verweist.

Sehnsucht als Kontrast zur Wirklichkeit

Von ihrem Anspruch her ist Sehnsucht ein Raum der Möglichkeiten, ein kreativer, unbegrenzter Raum, und bildet insofern einen scharfen Kontrast zu den Begrenzungen und Beschränkungen unserer Alltagsrealität. Sehnsucht weist mit anderen Worten über das Reale und Konkrete hinaus und will dieses verbessern - aber nicht nur das. Im Grunde genommen ist Sehnsucht eine permanente Suche nach Vollkommenheit, nach Perfektion, nach dem Optimum. Man kann auch sagen, dass Sehnsucht die Vorstellung ist, was "das vollkommene und perfekte Leben" wäre, also ein Leben, bei dem die kühnsten Träume Wirklichkeit werden. Folglich kann man Sehnsucht auch als eine persönliche oder soziale Utopie beschreiben. Grundlage dieser utopischen Qualität der Sehnsucht ist die Verbindung von Idealen mit Gefühlen.

Sehnsucht als Antriebskraft

Indem sie die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit aufzeigen, werden Sehnsüchte zur wichtigsten Antriebskraft des Menschen. In diesem Zusammenhang erfüllen Sehnsüchte – wie eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin ergeben hat – zwei Funktionen. Und zwar können sie zum einen dabei helfen, mit der eigenen Unvollkommenheit, mit Verlusten und dem nicht-perfekten Leben umzugehen. Denn in dem imaginären Möglichkeitsraum, den die Sehnsucht bietet, kann man das perfekte Leben eben doch für eine gewisse Zeit leben, die Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit doch einmal schließen und dadurch das kompensieren, was man im realen Leben vermisst.

Zum anderen kann Sehnsucht dem Leben eine Richtung geben, und zwar indem sie uns dabei hilft, uns Ziele in den Lebensbereichen zu setzen, die uns besonders wichtig sind. Und das sind eben die oben genannten Lebensbereiche der Sehnsüchte. So kann z.B. die Sehnsucht nach Entfaltung der Potenziale, über die man verfügt, einmünden in das Bestreben, einen möglichst erfüllenden Beruf auszuüben. Diese Sehnsucht kann folglich das Berufsleben einer Person nachhaltig prägen und dadurch Auslöser für herausragende Leistungen werden. Man kann auch sagen, dass - indem aus Sehnsüchten konkrete Handlungsziele resultieren - aus einer persönlichen Utopie eine Vision wird, die wir verwirklichen möchten.

Bedingungen für die positive Wirkung von Sehnsüchten

Sehnsüchte dienen also als Richtschnur für unser Denken und Handeln und können deshalb ein Mittel sein, um Verluste und die Blockierung von Lebenswünschen mental zu verarbeiten und andere Ziele ins Auge zu fassen, die unserem Leben eine neue Richtung geben. Es hängt jedoch von bestimmten Bedingungen ab, ob sich Sehnsüchte zu Visionen und letztlich zu konkreten Handlungszielen weiterentwickeln. Und zwar geht es hier darum, wie unsicher sich die Menschen fühlen, wenn es um die Realisierung der Ziele geht, wie hoffnungsvoll sie sind, wie positiv sie auf ihr Leben blicken und ob sie ihre Sehnsucht als kontrollierbar wahrnehmen. Insbesondere wenn Menschen ihre Sehnsüchte kognitiv kontrollieren können, also sich nicht als Spielball ihrer Sehnsüchte erleben, sind sie in der Lage, die süße Komponente der Sehnsüchte voll auszukosten und für ihre persönliche Weiterentwicklung zu nutzen.

Der Mensch muss jedoch über bestimmte geistige Fähigkeiten verfügen, damit er überhaupt Sehnsüchte empfinden und sie als Leitlinie bei seinen Entscheidungen verwenden kann. Deshalb hängt das Empfinden von Sehnsüchten auch vom Lebensalter ab. Das heißt: Erst ältere Kinder und Jugendliche verfügen über die für das Empfinden von Sehnsüchten nötigen kognitiven Fähigkeiten wie die Fähigkeit zum Nachdenken über die eigene Biografie und das für Sehnsüchte typische "Was-wäre-wenn-Denken". Zur vollen Entfaltung kommt die Sehnsuchts-Fähigkeit dann im jungen bis mittleren Erwachsenenalter, und die zentralen Merkmale der Sehnsucht bleiben über das gesamte Erwachsenenleben bestehen.

Die Prägung der Inhalte von Sehnsüchten

Zunächst hängen die Inhalte der Sehnsüchte naturgemäß vom Lebensalter ab. Im Laufe des Erwachsenenlebens ändern sich also die Ziele unseres Sehnens. So konzentrieren sich die Sehnsüchte von jungen Erwachsenen auf Partnerschaft und beruflichen Einstieg. Für ältere Erwachsene sind die Familie und die Karriere wichtig, ältere Erwachsene müssen sich mit dem Verpassen von Lebenschancen auseinandersetzen und suchen nach Möglichkeiten, Verpasstes vielleicht doch noch nachzuholen oder adäquaten Ersatz dafür zu finden. Ferner rückt bei letzteren auch die Gesunderhaltung in den Vordergrund.

Ferner können die Inhalte von Sehnsüchten von kulturellen Gegebenheiten und von der sozialen Lage abhängen, in der man sich befindet. Das heißt: Eigentlich kann nur derjenige, der relativ frei von wirtschaftlichen Sorgen lebt, sich Gedanken um persönliche Lebenskonzepte machen und in persönlichen Utopien schwelgen, sich Träumen von einem paradiesischen Leben hingeben. Wer demgegenüber um das tägliche Überleben kämpfen muss, wer kaum Geld für das Nötigste hat, dessen Sehnsüchte werden eher materiell sein und sich am heute und morgen orientieren. Es ist zudem wahrscheinlich, dass in diesem Fall die Betroffenen Sehnsüchte eher als belastend und nicht als hilfreich oder gar tröstlich empfinden, weil sie nicht zu den vorhandenen Möglichkeiten passen. Und aufgrund dieses - erzwungenen - Verzichts auf Sehnsüchte droht der Absturz in die Depression oder in die Sucht.

 

Fazit

Der permanente Entwicklungsprozess, den jeder Mensch bis ins hohe Alter durchmacht, wird maßgeblich durch seine Sehnsüchte geprägt. Dabei können Sehnsüchte aufgrund ihrer ambivalenten emotionalen Tönung sowohl befreiend und belebend als auch belastend und lähmend wirken. Es hängt jedoch nicht von der Stärke der Sehnsüchte ab, ob der Mensch sie als "süß" oder eher als "bitter" empfindet, sondern von seiner Fähigkeit, sie gezielt zu kontrollieren und zu steuern. Und dazu gehört, sich die unaufhebbare Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit vor Augen zu führen, diese zu akzeptieren und zu versuchen, das Beste daraus zu machen. Diese Fähigkeit erwirbt man in der Regel durch die Erfahrungen, die man im Laufe seines Lebens im Umgang mit Sehnsüchten macht. Im besten Fall entsteht daraus eine "Sehnsucht nach der Sehnsucht". Und nur aufgrund dieser Sehnsucht nach der Sehnsucht gibt es einerseits eine Weiterentwicklung des Einzelnen und andererseits gesellschaftlichen Fortschritt.

 

Quellen:

http://www.rapunzellounge.de/liebe-sehnsucht/

https://www.mpg.de/908422/W004_Kultur-Gesellschaft_066_072.pdf (Bericht über empirische Untersuchung)

https://www.klett-cotta.de/fm/14/9783608946796.pdf

 

Bildnachweis:

Alle Bilder: pixabay.com

 

 

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