Neurophysiologie

Da das Thema der Neurophysiologie so gerne im Internet ausgebreitet wird, leider aber auch in "ordentlichen" Büchern, hier eine Warnung vorneweg. So ist zum Beispiel die Theorie der digitalen Demenz von Manfred Spitzer eher eine Hypothese (ein Vorurteil), dem man Beachtung schenken sollte, aber kein bewiesener Sachverhalt (vergleiche: Die seltsame Theorie der digitalen Demenz des Manfred Spitzer).

Vor einigen Wochen hatte sich ein NLP-Coach versucht, in meinem Kurs Förderassistent Schule zu bewerben. Dabei kam er unter anderem auf die so genannten Spiegelneuronen zu sprechen, die angeblich für die Empathie zuständig seien. Das ist leider komplett falsch. Spiegelneuronen unterstützen die Nachahmung. Und das erstaunliche an ihnen ist, dass sie solche Nachahmungen unterstützen, ohne dass der Betreffende sie sofort ausführen müsste. Zumindest bei Makaken, einer Affenart. Es ist natürlich wunderbar, dass NLPler das nun auch können, aber normalerweise verwechseln wir doch nicht Affen mit Coaches. Beim Menschen ist das Thema der Spiegelneuronen sogar noch wesentlich komplizierter, da er sehr verteilt Zellhaufen dieser Neuronenart besitzt und gleich zwei verschiedene Sorten davon.

Wir sollten uns also nicht von den ganzen Versprechungen von populärwissenschaftlichen Büchern blenden lassen. Es gibt keine Alternative zum Lernen. Und viele dieser Lernregeln kennt man eigentlich schon seit 200 und mehr Jahren; sie lassen sich heute nur sicherer beweisen. Gute Bücher schreibt Gerhard Roth.

Was sind kognitive Funktionen?

In der Forschungsliteratur gibt es gewisse Kernfunktionen, die immer wieder in den Mittelpunkt gestellt werden. Dies sind die Begriffsbildung und das Problemlösen. Strittiger sind Funktionen wie Kreativität, und Transfer. Höhere psychische Funktionen sind also vorrangig kognitive Funktionen. Das liegt unter anderem daran, dass die emotionalen Anteile zwar wichtig sind, sich aber wahrscheinlich nur extrem langsam ändern. Das emotionale Gedächtnis betrifft vor allem die Verknüpfung der Emotionen mit kognitiven Inhalten. Wer Angst vor Mathematik hat, hat nicht eine direkte, sondern eine verbundene Angst vor Mathematik. Diese Verbindung wird gelernt und kann, mit wesentlich mehr Aufwand, auch wieder verlernt werden.

Begriffsbildung

Die Begriffsbildung basiert nun auf festen Mustern, die gelernt werden. Dabei bestehen diese Muster vorwiegend aus Qualitäten, das heißt aus Merkmalen. Der Begriff "Baum" beinhaltet einen Stamm, Blätter oder Nadeln, Früchte in irgendeiner Form (Beeren, Tannenzapfen, Nüsse). Begriffe sind Bündel aus Merkmalen und die Begriffsbildung heißt, diese Merkmale zu erlernen oder zu erfahren.

Problemlösen

Das Problemlösen ist etwas komplizierter. Dabei gibt es zwei Verfahren, einmal die Bildung von Analogien und einmal die Mittel-Ziel-Analyse. Die Mittel-Ziel-Analyse ist rasch zu begreifen: ich habe ein Ziel und suche mir die Mittel zusammen, die ich zum Erreichen brauche. Dabei probieren kleine Kinder vor allem aus, Grundschulkinder planen und Erwachsene schaffen Bedingungen, dass ein Ziel möglich wird.

Die Analogiebildung ist nun gar nicht so einfach zu erklären und ich werde hier nur kurz darauf eingehen. Man nennt diese auch Verhältnisgleichheit. Ein Hund kann mit seinen Beinen laufen, wie ein Auto mit seinen Rädern fahren kann. Ein Rezept ermöglicht das Kochen eines Gerichtes, wie eine Betriebsanleitung die Bedienung eines elektrischen Gerätes ermöglicht. Wir brauchen diese Analogiebildung, um uns in neuen Situationen zu orientieren.

Der Aufbau höherer psychischer Funktionen

In der russischen Psychologie hat der berühmte Psychologe Wygotski  geschrieben, dass sich jede höhere Denkfunktion zunächst dialogisch aufbaue. Im gemeinsamen Handeln und später im gemeinsamen Sprechen werde das betreffende Thema gelernt und später so weit verinnerlicht, dass es alleine (monologisch) ausgeübt werden kann.

So können viele Eltern ohne nachzudenken dialogisch Begriffe vermitteln. Sie erklären ihren Kindern, wie die Dinge heißen, benennen die Eigenschaften (sinnliche Merkmale) und lassen ihre Kinder ausprobieren, was man mit ihnen tun kann. Das Kind findet (hoffentlich) den Gegenstand interessant, fragt nach und spielt oder experimentiert mit diesen. Die Eltern stehen dabei, helfen und korrigieren.

Ähnliches findet man auch in der Schule, vor allem bei kompetenten Lehrern. Auch Erwachsene bauen natürlich noch Begriffe auf, allerdings häufig auf wesentlich komplexeren Ebenen. Kindliche Begriffe beziehen sich ausschließlich auf Gegenstände und Handlungen. Dies ist auch noch im Erwachsenenalter die wichtigste Ebene der Begriffsbildung. Allerdings werden hier mehr und mehr Funktionen und abstrakte Ideen ebenfalls als Begriffe erfasst und ausgearbeitet.

Begriffe bestehen also aus Merkmalen und Handlungsmöglichkeiten. Wir lernen sie dadurch, indem wir uns bewusst machen, welche dieser Aspekte zu einer Bezeichnung (also dem Wort für den Begriff gehört).

Auch Problemlöseprozesse sind dialogisch. Zunächst! Dabei muss man beachten, dass kleine Kinder sehr produktorientiert denken und wenig bis gar nicht an die passenden Mittel. Das ändert sich zwar teilweise sehr massiv schon im Kleinkindalter, ein wirkliches Verständnis für die Planung und ihren Sinn wird aber erst um das sechste Lebensjahr aufgebaut. Dabei ist die Mittel-Ziel-Analyse den Kindern früher präsent als die Analogiebildung. Die Analogiebildung hat häufig keinen direkten Nutzen. Sie benennt Alternativen, bricht festgefahrene Denkweisen auf und vergleicht verschiedene Möglichkeiten. Für das wissenschaftliche Denken ist sie wesentlich. Aber bei Kleinkindern verschwindet häufig der Prozess  des Analogisierens  hinter dem Ergebnis.

Kleinen Kindern hilft man, indem man sie für möglichst viele Dinge begeistert. Beachten Sie hier aber bitte dabei, dass Sie das nie (NIE, um es deutlich zu machen) gegen den Willen des Kindes tun. Denn was erstmal emotional negativ besetzt ist, wird schlechter gelernt. Durch Druck und Zwang können Sie hier Ihr Kind schädigen. Versuchen Sie stattdessen, Ihr Kind zu verführen und lassen Sie es in Ruhe, wenn es das Interesse verliert.

Kritik

Nicht alles  an diesem Ansatz ist gut ausgearbeitet. Man weiß zwar, dass negative Emotionen ein Thema für den Lerner schwierig machen, positive einfach; da es aber auf beiden Seiten sehr unterschiedliche Gefühle gibt, ist eine generelle Behauptung, es sei immer so, wie dargestellt, wissenschaftlich nicht haltbar.

Außerdem gibt es die Theorie der kognitiven Dissonanz. Diese wurde von dem amerikanischen Psychologen Jerome Bruner  entworfen. Dabei handelt es sich um "Ungleichgewichte" im Denken, die durch die Eigendynamik des Denkens überwunden werden, also gerade nicht durch Lernen  am äußeren Gegenstand. Drittens muss man die Kreativität kritisch sehen: die Theorie des dialogischen Lernens kann nicht erklären, wie Menschen erfinden und entdecken können.

Fazit

Obwohl der Ansatz des dialogischen Lernens gute Ideen bietet, wird er wohl nicht die Alleinherrschaft übernehmen. Trotzdem hat sich der Aufbau höherer psychischer Funktionen im Dialog sehr bewährt. Nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene ist er äußerst hilfreich.

Frederik_Weitz, am 24.02.2013
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Bildquelle:
EmbryoScope am Kinderwunschzentrum Ulm (Schwanger werden! Interview mit dem Leiter des Kinderwunschzentrums...)

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