Reimen?
Was Jahrhunderte lang selbstverständlich war, gilt heute bei ernsthaften Dichtern nichts mehr: der Reim. Allerdings gelten auch viele ernsthafte Dichter nichts mehr beim Leser, der schlicht die Reime vermisst. Also: Soll man reimen? Klare Antwort: Kommt drauf an. Gelegenheitsgedichte zum Geburtstag oder zur Hochzeit, Weihnachtsgedichte oder etwas Lustige für Kinder, da sind Reime noch immer schwer angesagt. Will man die Tiefen der menschlichen Existenz ausloten, wirken Reime möglicherweise deplatziert.

Worüber man sich klar sein sollte beim Reimen: Sie verführen nicht nur den Leser durch Wohlklang, sie verführen auch den Schreibenden, nur des Klanges wegen Zusammenhänge zu produzieren. Das muss nichts Schlechtes sein, kann aber auch zu Lasten des roten Fadens gehen. Und: Nicht der erstbeste ist immer der beste Reim, besonders beim Paarreimen sollte man sich vor Schnellschüssen in acht nehmen.

Metrum?
Auch hier gibt es eine Jahrhunderte währende Tradition, die in letzter Zeit vernachlässigt wird. Hinzu kommt, dass ein Metrum durchzuhalten nicht so einfach ist. Dafür braucht es etwas Übung. Trotzdem ist der Lohn überreich, wenn man erstmal mit dem Metrum warm geworden ist. Selbst reimlose Gedichte, die sich des Metrums bedienen, haben durch ihren Rhythmus noch einen ganz besonderen Klang. Auf der anderen Seite kann ein Reimgedicht durch Metrumfehler ruiniert werden, weil es zwischendurch immer wieder "hoppelt".

Den Unterschied zwischen metrischen und nicht-metrischen Gedichten merken Sie aber erst, wenn Sie selbst etwas in der Materie drin stecken. Da trennt sich die Spreu vom Weizen, wie man früher auf bäuerlich sagte.

Freie Verse?
Der große Vorteil freier Verse, die keine Rücksicht auf Reim und Metrum nehmen, ist ihre Einfachheit:

Man kann jeden Satz
in Verse teilen,
doch ist das
noch lange kein Gedicht, oder?

Man kann
jeden Satz
in Verse teilen,
doch ist
das noch
lange kein Gedicht,
oder?

Die Einfachheit freier Verse ist nur Schein. Sicher gibt es unzählige Genies, die gleich beim ersten Mal die richtige Form für ihre Verse finden, weil sie Alternativen schlichtweg nicht in Betracht ziehen, doch eigentlich muss man sich bei diesen angeblich formlosen Gedichten wesentlich mehr Gedanken um die Form machen, als wenn man einen sich reimenden Vierzeiler schreibt. Es gibt so viele Möglichkeiten, Satzbauten zu zerteilen. Welche ist die beste für diesen einen Text? Der Inhalt sollte schon die Mühe wert sein, wenn man zu freien Versen greift, denn Beliebigkeit ist ganz sicher nicht, was man als Dichter anstrebt.

Wie fängt man an?
Am besten mit einem konkreten Anlass oder Thema. Die Oma wird 70? Prima. Ihr Freund hat Sie verlassen? Wunderbar. Sie wollten schon immer mal was über rosa Elefanten schreiben? Phantastisch. Und wenn Sie nichts Konkretes haben, denken Sie sich zwei Wörter, die überhaupt nicht zusammen passen, Pferd und Marmelade z.B.

Der nächste Schritt ist ein Stück weißes Papier, ob real oder als Textverarbeitungsseite ist egal, und 15 Minuten Zeit. In diesen 15 Minuten machen Sie nichts Anderes – Ihr Handy ruht in Frieden, das Internet hat Pause – als sich Formulierungen, Verse durch den Kopf gehen zu lassen, bis Sie etwas finden, das einen Erfolg versprechenden Anfang bildet. Aufschreiben. Und von da aus schreiben Sie ins Unreine weiter. Das muss nicht alles gleich zusammen passen. Die Hauptsache ist, Sie lassen die Ideen fließen.

Wenn es fließt, machen Sie weiter und beginnen zu feilen. Die 15 Minuten sind nur eine Zeitgrenze, falls Ihnen nichts Vernünftiges einfällt. Dann brechen Sie ab und lassen Ihren Kopf im Stillen weiter arbeiten. Das funktioniert wie bei der Namenserinnerung. Wenn man aufgibt, kommt der Name irgendwann von selbst.

Zu den ganzen technischen Details kann ich hier nichts schreiben. Das bräuchte mindestens ein ganzes Buch. Nur eins sollten Sie immer beherzigen: Seien Sie flexibel. Gedichte erlauben mehr Satzbaukonstruktionen, mehr Abweichungen vom normalen Sprachgebrauch als andere Texte. Nutzen Sie diese Freiheiten, es gibt immer Alternativen, nur wer tot ist, hat keine mehr.

Wer soll es lesen?
Natürlich sollen das Gedicht möglichst viele Menschen lesen. Das ist nicht gemeint, sondern wer soll es lesen, um eine Einschätzung des Textes abzugeben? Freunde und Verwandte sind im Normalfall ungeeignet. Selbst wenn sie etwas von Lyrik verstehen sollten, steht immer noch der Sympathiebonus im Weg. Internetforen, in denen sich Lyriker tummeln, sind eine zweischneidige Angelegenheit. Nach meiner Beobachtung wird dort viel gelobt, was kein Lob verdient und selten mal mit Sachverstand konstruktiv Kritik geübt. Das ist kein Wunder: Lob ist billig, Kritik kostet Zeit.

Wer soll es also lesen? Der wichtigste Leser sind immer noch Sie selbst. Haben Sie das Gefühl, Ihr Gedicht ist fertig, dann schlafen Sie eine Nacht drüber. Meinen Sie, es ist perfekt, dann schlafen Sie eine Nacht drüber. Kommt es Ihnen so vor, als ob Sie nie etwas Besseres geschrieben hätten, dann schlafen Sie eine Nacht drüber. Natürlich schreibt man Gedichte, um sich einen kleinen Rausch anzudenken, natürlich kann man ratzfatz Gedichte im Netz veröffentlichen, trotzdem gilt: Schlafen Sie eine Nacht drüber.

Noch besser ist es, wenn Sie Gedichte auch mal länger liegen lassen. Vorausgesetzt Sie bleiben am Ball, lesen selbst viele Gedichte, auch von den alten Meistern, beschäftigen sich ein bisschen mit der Theorie des Versbaus, dann werden Sie sich weiter entwickeln. Schauen Sie dann in einem Monat oder in einem halben Jahr wieder drauf, so werden Sie Dinge bemerken, die Ihnen vorher entgangen sind, oder Sie werden sehen, dass Ihr Gedicht Bestand hat.

Wo gibt's mehr?
Dieser Artikel kann nicht viel mehr als sein als ein Appetitmacher mit ein paar praktischen Tipps. Eine gute Ergänzung ist der Pagewizz-Artikel Eigene Gedichte schreiben..., wo einige weitere Aspekte aufgegriffen werden.

Zwischendurch verschwunden, aber jetzt wieder online ist der ausführliche Kurs zum Schreiben von Gedichten beim Lyrikmond. Viel Nützliches wurde auch auf der "Schulbank" des Dichter-Forums gesammelt.

Eine praktische Hilfe ist das Reimlexikon Echtreim. Ansonsten ist ziemlich Ebbe im Netz. Die Damen und Herren Dichter mögen anscheinend keine Auskunft geben über ihre Methoden. Daher noch zwei Hinweise auf Artikel zu Spezialformen: Hier bei pagewizz gibt es einen über das Schreiben von Elfchen und "in der Fremde" ein Text zum Haikuschreiben.

Nachschlag
Hatte ich behauptet, es gäbe keine Zusammenhang zwischen Pferd und Marmelade?

Ach, mein Pferd, wie ist das schade,
aß mein Brot mit Marmelade.

Merke: Ein Paarreim ist immer noch der schnellste Weg, ein Thema zu ruinieren.

Autor seit 10 Jahren
5 Seiten
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