Positiver und negativer Narzissmus

Zunächst soll gezeigt werden, was sich hinter dem schillernden Begriff "Narzissmus" verbirgt. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen positivem und  negativem Narzissmus.  "Positiver Narzissmus"  ist eine positive Einstellung des Menschen zu sich selbst, und diese bewirkt und erhält ein stabiles Selbstwertgefühl. Dieses ist wiederum die Voraussetzung für positive, auf einem gegenseitigen Nehmen und Geben beruhende Beziehungen zu anderen Menschen und zur Welt. "Negativer Narzissmus" geht demgegenüber einher mit einem mangelnden Selbstwertgefühl und hat zur Folge, dass die Betroffenen vorwiegend sich selbst zugewandt sind und "lieben, nur um geliebt zu werden". Oft neigen negativ narzisstische Menschen auch dazu, andere abzuwerten, um das eigene Ego aufzuwerten.

Der Übergang von der Normalität zur Pathologie

Beim negativen Narzissmus ist wiederum zu unterscheiden zwischen einer narzisstischen Prägung der Persönlichkeit und der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Das heißt: Es ist zu unterscheiden zwischen dem Narzissmus als Wesensart und dem pathologischen Narzissmus. Und man kann meines Erachtens davon ausgehen, dass  in der gegenwärtigen Gesellschaft viele Menschen zwar narzisstisch geprägt sind, dass sie aber keine pathologischen Narzissten sind. Noch normal?/PixabayViele Zeitgenossen weisen mit anderen Worten  narzisstische Persönlichkeitszüge auf; diese liegen aber noch "innerhalb der Norm".  Sie nehmen erst dann die Form einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung an, wenn sie sich dauerhaft verfestigen. Nur wenn also ein an sich normaler und gesunder Narzissmus die Persönlichkeit des Betroffenen regelrecht dominiert, kann man von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung sprechen. Es geht mit anderen Worten  um das rechte Maß zwischen Egozentrik und Rücksichtnahme, zwischen  Empathie und Durchsetzungsfähigkeit. Nach Schätzungen entwickeln sich bei etwa sechs Prozent der Bevölkerung die – an sich normalen -  narzisstischen Eigenschaften im Laufe ihres Lebens weiter zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung

Menschen mit einer voll ausgebildeten narzisstischen Persönlichkeitsstörung besitzen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein bis hin zu massiver Selbstüberschätzung, durch die allerdings in Wirklichkeit die grundlegende und dauerhafte Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls kompensiert werden soll, an der die Betroffenen leiden. Beim pathologischen Narzissten treten also selbstherrliches Auftreten und Minderwertigkeitsgefühle nebeneinander auf. Hinzukommen ein eklatanter Mangel an Einfühlungsvermögen in Verbindung mit emotionaler Kälte und ein unstillbares Bedürfnis nach Bewunderung, gepaart mit einer  Überempfindlichkeit gegenüber Kritik. Ferner nehmen pathologische Narzissten für sich das Recht in Anspruch, über andere Menschen ohne jegliche Schuldgefühle zu verfügen, sie zu beherrschen und auszubeuten. Insgesamt  vereinen sich bei Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung extreme Egozentrik,  Mangel an Einfühlungsvermögen, Überempfindlichkeit und die Neigung zur Entwertung  und Erniedrigung anderer. Beispiele dafür gibt es zur Genüge, angefangen beim Familientyrannen über den selbstgerechten Moralapostel bis hin zum "Westentaschendespoten", der über sein Kleinunternehmen "herrscht".

Hirnanomalien bei pathologischen Narzissten

Eine Studie an der Berliner Charité hat gezeigt, dass die Gehirne von pathologischen Narzissten auffällig verändert sind, dass also pathologischer Narzissmus nicht nur eine psychologische, sondern auch eine physiologische Basis hat. Das heißt: Einige ganz spezielle Hirnstrukturen sehen bei Narzissten messbar anders aus. Und zwar weist jene Hirnregion, die für soziales Denken und Empathie zuständig ist, bei Narzissten weniger Volumen und Substanz auf. Noch ist jedoch unklar, ob diese Defekte angeboren sind oder durch eine missglückte Erziehung erst erworben werden.

Pathologischer Narzissmus als Krankheit machthungriger Männer

Auffällig ist, dass von der narzisstischen Persönlichkeitsstörung vor allem Männer betroffen sind. Nach Expertenmeinung hängt dies damit zusammen, dass Männer die Machtpositionen in der Gesellschaft besetzen. Das heißt: Die Ausübung von Macht macht narzisstisch; durch die Ausübung von Macht nimmt der normale Narzissmus krankhafte Züge an. Umgekehrt werden Menschen, die bereits an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden,  von Machthaber/PixabayMachtpositionen magisch angezogen, da sie hier ihre Neigungen scheinbar ungestört ausleben können. Und es sind die spezifischen Persönlichkeitsmerkmale des pathologischen Narzissten, nämlich ungezügelte Selbstbezogenheit, Siegermentalität, Karrierebesessenheit und Größenphantasien, die diesem den Weg in die Schaltzentralen der Macht ebnen. Ferner liegt es in diesem Zusammenhang nahe, von Machtmissbrauch zu sprechen, da die Ausübung der Macht "nicht der Sache dient", sondern der Befriedigung der pathologischen Bedürfnisse des Machthabers. Pathologischer Narzissmus erscheint demnach als eine psychische Erkrankung, von der vor allem Menschen betroffen sind, die nach Macht streben oder bereits Machtpositionen innehaben. Und das sind in der westlichen Gesellschaft vorwiegend Männer.

Die wahren Machtverhältnisse

Das Streben narzisstisch gestörter Männer nach Macht sagt auch etwas aus über die wahren Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Das heißt, die Tatsache,  dass in den Führungsetagen der großen Konzerne die Männer weitgehend unter sich sind, deutet daraufhin, dass die wirklich wichtigen Machtpositionen vor allem im Bereich der Ökonomie angesiedelt sind. Umgekehrt könnte man  das Vordringen von Frauen in politische Machtpositionen mit einem Bedeutungsverlust der Politik in Zusammenhang bringen.

Der narzisstische Psychopath

Steht bei einer Person die Entwertung und Erniedrigung des anderen im Vordergrund, schöpft sie vor allem daraus ihren Selbstwert und versucht  sie sich selbst aufzuwerten, indem sie andere Menschen stets erniedrigt und klein macht, liegt die schlimmste Form des pathologischen Narzissmus vor:  der bösartige Narzissmus. Ein Mensch, der so geartet ist, wird gemeinhin als "Psychopath" bezeichnet. Man kann ihn beschreiben als völlig unfähig zur Einfühlung in andere, oberflächlich charmant, anpassungsfähig, zynisch-kalt, bindungs- und skrupellos und ausschließlich an privater Nutzenmaximierung interessiert.

Das Scheitern des Psychopathen

Scheitern/PixabayNach Expertenmeinung haben die Jahre des entfesselten Finanzmarktkapitalismus gezeigt – und dieser Meinung kann man sich nur anschließen – dass Psychopathen nicht immer in der Psychiatrie landen, sondern unter bestimmten Bedingungen "gesellschaftsfähig" werden und sogar mit verantwortlichen Positionen betraut werden.  Aufgrund ihrer schweren psychischen Defekte ist jedoch ihr Scheitern vorprogrammiert, da diese zum Realitätsverlust führen und sie handlungsunfähig machen. Ich teile deshalb auch  nicht die Befürchtung, dass dieser Persönlichkeitstypus in der westlichen Gesellschaft zur Normalität werden könnte. Allerdings hat speziell die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert gezeigt, dass es gesellschaftliche Bedingungen geben kann, unter denen der Psychopath zum "Standard" wird, und auch bei den Despoten, die sich noch im  21. Jahrhundert in etlichen Staaten an die Macht klammern, handelt es sich mit Sicherheit um Psychopathen.  

 

Der Anstoß zur Therapie

Bei Menschen, die an pathologischem Narzissmus leiden, kommt der Anstoß zur Therapie häufig aus dem persönlichen oder beruflichen Umfeld der Betroffenen, weil Angehörige, Freunde oder Kollegen das Verhalten des pathologischen Narzissten  irgendwann nicht mehr ertragen können. Schwer erträglich sind vor allem sein ständiges Lechzen nach Bewunderung sowie seine  Eigenart, "auszuteilen, aber selber nichts einstecken zu können", also seine Neigung, andere "sadistisch niederzumachen", aber gleichzeitig tödlich beleidigt zu sein, wenn er irgendwo Kritik an seiner Person wittert. Der Psychiater Reinhard Haller hat in diesem Zusammenhang den Spruch geprägt: "Gott vergibt, ein Narzisst aber nie!"

Das Leiden des Narzissten

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung kommen zunächst einmal gar nicht auf die Idee, dass sie eine Therapie benötigen, weil sie sich ja "für die Größten", für unfehlbar, halten. Letztlich ist jedoch nicht nur die Umwelt Opfer dieser Selbstüberschätzung, sondern  die Betroffenen leiden selbst, weil sie sich mit ihren krampfhaften Versuchen, ihre Minderwertigkeitsgefühle zu überspielen, selber starkem Stress aussetzen. Auch die  Ablehnung ihrer Umwelt lässt sie in Wirklichkeit "nicht kalt", und sie nehmen als Reaktion darauf häufig Zuflucht zu Drogen oder entwickeln eine Depression oder Angsterkrankung.

Therapie (Bild: Pixabay)

Der pathologische Narzisst in der Therapie

Bei der Therapie des pathologischen Narzissten wird versucht, sein Verhalten zu ändern, und es wird nach der Ursache der Persönlichkeitsstörung gesucht. Die derzeit wichtigsten bzw. anerkannten Therapieformen sind:

  • kognitiv/verhaltenstherapeutische und supportive (unterstützende) Techniken 
  • tiefenpsychologische und/oder störungsorientierte Behandlungsverfahren, die gezielt auf die spezifischen Problembereiche der gestörten Persönlichkeit eingehen
  • pädagogische bzw. psychagogische Therapiemethoden, um möglichst viel Selbsterfahrung und selbstgesteuerte Veränderungsmöglichkeiten zu nutzen
  • Psychotherapie, bei der der Betroffene lernt, seine eigenen Ansprüche zu reduzieren, sich zurückzunehmen, eine gewisse Anpassung an die Umgebung zu üben und die Probleme nicht nur bei anderen, sondern auch bei sich selber zu suchen.

 

 

 

Die Therapieresistenz des Psychopathen

Je ausgeprägter die narzisstische Störung ist, desto schwieriger ist naturgemäß auch die Therapie. Deshalb erweist sich der narzisstische Psychopath in der Regel als total therapieunfähig. Um einen solchen Menschen sollte man, so der Rat Reinhard Hallers, am besten einen großen Bogen machen.

Fazit

Als Liebe des Menschen zu sich selbst ist Narzissmus die Basis einer gesunden psychischen Entwicklung und damit eine grundlegende, positiv zu bewertende Komponente der menschlichen Persönlichkeit. Die derzeit bei vielen Individuen zu beobachtende starke Ausprägung des Narzissmus als Wesensart kann interpretiert werden als Anpassung an die spezifischen gesellschaftlichen Gegebenheiten am Beginn des 21. Jahrhunderts. Anlass zur Sorge besteht dann, wenn es zu einer Entartung des Narzissmus hin zu einer egoistischen Selbstverliebtheit kommt und damit zwangsläufig auch zu einem gehäuften Auftreten narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. Um hier gegensteuern zu können, muss das Problem jedoch zunächst einmal in seinen Ausmaßen erkannt und adäquat beschrieben werden. Dazu wollte ich einen Beitrag leisten.

Bildnachweis

Alle Bilder: Pixabay.com

Autor seit 11 Jahren
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