Wols – das unstete Leben eines deutschen Künstlers
Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden würdigen einen fast in Vergessenheit geratenen Fotografen: Alfred Otto Wolfgang Schulze alias Wols. Vor 100 Jahren wurde er geboren.Wols Photograph. Der gerettete Blick (Bild: http://www.hatje-cantz.de/)
Der frühe Tod des Vaters – der Regierungsbeamte Dr. Alfred Schulze starb 1929 im Alter von 51 Jahren – stürzte den Teenager in eine tiefe Krise. Das Abitur schaffte er trotz Privatunterricht nicht; er fand Arbeit in einer Autoreparaturwerkstatt, wechselte in das Fotoatelier einer Freundin der Familie und von dort ins Frobenius-Institut für Völkerkunde in Frankfurt am Main. Die Ruhelosigkeit wurde fortan bestimmendes Moment in seinem Leben.
Auf Empfehlung von Lászlo Moholy-Nagy, Lehrer und Künstler am Bauhaus, reiste der junge Mann 1932 nach Paris, wo er zunächst das Leben eines Bohemiens führte. Seine Freundin und spätere Ehefrau Hélène Marguerite Dabija, genannt Gréty, machte ihn mit Künstlern wie Hans Arp, Alexander Calder und Alberto Giacometti sowie Mitgliedern der Pariser Theater- und Literaturszene bekannt. Im Juli 1933 reiste Schulze zum letzten Mal nach Deutschland. Erschrocken über die Machtübernahme der Nationalsozialisten kehrte er seiner Heimat endgültig den Rücken.
Das unstete Wanderleben ging weiter – Barcelona, Mallorca, Ibiza hießen die Stationen. Um sich über Wasser zu halten, arbeitete er als Deutschlehrer und Taxifahrer. Und er begann zu fotografieren. Zurück in Frankreich lebte er praktisch im Untergrund, weil er als staatenlos und - von Deutschland aus betrachtet - fahnenflüchtig galt. Fernand Légèr und andere setzten sich für ihn ein, damit er eine befristete Aufenthaltserlaubnis bekam. 1937 schien sich das Blatt zu wenden; er erhielt den Auftrag, auf der Pariser Weltausstellung Mode für den "Pavillon de l'Elégance et de la Parure" zu fotografieren.
Modefotos wie aus einem Horrorfilm
Es waren nicht die klassischen Hochglanzfotos, die Aufsehen erregten, sondern sein Ansatz, aus ungewohnten Perspektiven, mit Hilfe von Collage und Lichteinfällen ungewöhnliche Momente festzuhalten. Die Modepuppen ("Mannequins") wirken in seinen Bildern wie geköpfte Menschen, verlassene Objekte, die in Kulissen stehen, welche teils die Anmutung von Horrorfilmen vermitteln. Da strecken sich Puppenarme aus Heuballen in die Luft, hell angestrahlt und schwarze, bizarre Schatten auf rau genarbte Wände projizierend. Der Blick ist aufs verstörende Detail fokussiert und lenkt vom eigentlichen Ziel, der Mode, ab. Immerhin wurden seine Fotos als Postkarten verkauft – offenbar erkannten die Auftraggeber das Ungewöhnliche der Arbeiten von Wols, wie er sich inzwischen nannte. Beim Künstler sorgten sie jedenfalls für einen vorübergehenden Wohlstand.
Zahlreiche Künstlerporträts entstanden parallel, Stadtansichten und Stillleben, Fotografien von Paris zumeist jenseits der Sehenswürdigkeiten: "provozierend kunstlos", wie es im Katalog zur Ausstellung heißt. Während seine Nahaufnahmen von toten Tieren und zerteilten Puppen surrealistischen Filmszenen von Luis Buñuel entstammen könnten, zeigen die Bilder von Menschen, Straßen, Plätzen und Flüssen das ungeschönte, ungeschminkte Paris weitab jeglicher Touristenpfade.
Selbst die im Kapitel "Südliche Landschaften" kompilierten Werke verweigern sich urlaubsähnlicher "Schönheit"; Treppen am Strand, von der Sonne in gleißendes Licht getaucht, führen scheinbar ins Nichts; schrundige Felsbrocken sind ineinander verkantet und wirken wie öde Mondlandschaften, eine Reihe kahler Baumstämme ragt wie Totems gegen einen milchigweißen Himmel, und Menschen liegen – schlafend? betrunken? – in unwirtlichen Gegenden auf mit Schutt und Schotter bedeckten Straßen.
Von der Selbstliebe zum Selbsthass
Vom körperlichen Verfall legt eine Reihe von Selbstporträts Zeugnis ab: "Die durch Einfluss von Alkohol provozierten Gemütsschwankungen finden einen schizophren anmutenden Widerschein, Selbstliebe wendet sich zu Selbsthass, das eigene Spiegelbild wird zum Freund, um den man buhlt, oder zum Feind, den man bekämpft", schreibt Claudia Schnitzer in einem Essay des Katalogs zur Ausstellung.
Nach Kriegsbeginn verschlechterten sich die Lebensumstände für Wols und seine Frau Gréty; er wurde interniert, versuchte nach seiner Entlassung, nach Amerika auszuwandern, doch die notwendigen Dokumente verschwanden auf ungeklärte Weise. Die restlichen Kriegsjahre verbrachte das Paar unter dem Schutz des Bürgermeisters von Dieulefit in der Region Rhône-Alpes im Süden des Landes. In dieser Zeit begann Wols zu malen, hatte Ausstellungen in Paris, Mailand und New York. Aber sein zunehmender Alkoholismus, verbunden mit psychischen Problemen, machte ihm das Arbeiten immer schwerer. Am 1. September 1951 ist Wols in Paris gestorben – an den Folgen einer zu spät erkannten Lebensmittelvergiftung.
© Rainer Nolden
Wols Photograph. Der gerettet Blick. Katalog zur Ausstellung in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Hatje Canz Verlag 2013, 446 Seiten, zahlr. Abbildungen, 68 Euro.
Termine der Ausstellungen: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, bis 26. August; Martin-Gropius-Bau, Berlin 15.März bis 16. Juni 2014; Musée d'Art moderne de la Ville de Paris, Herbst 2014
Pavillon de l'Elégance 1937 (Bild: Wols)
Selbstporträt (ca. 1933) (Bild: Wols)
Bildquelle:
Stele Heiz Mack in Mönchengladbach
(Der Maler und Bildhauer Heinz Mack in Mönchengladbach)