"Toleranz! Wir brauchen mehr Toleranz!", ätzte Harald Schmidt in seinem nicht aufdringlich genug zu empfehlenden Lachbuch "Tränen im Aquarium: Ein Kurzausflug ans Ende des Verstandes". Doch was bleibt an unterhaltsam-subversiven Tiefschlägen, nachdem sich Deutschlands letzter verbliebener Zyniker von der Fernsehbühne verabschiedet hat? Gemäß dem Sprichwort: "Geh gleich zum Schmidt und nicht zum Schmiedl" könnte einen Bösmenschen wie den Artikelautor schiere Verzweiflung ergreifen ob der intellektuellen Flachwitzerei in der deutschsprachigen Medienlandschaft. 

Gut, als Schmiedl eigneten sich noch Ausnahmekönner wie der leider ersanftete Dieter Nuhr oder Harald Martenstein, dem man einen zünftigen Vollrausch wünschen würde, auf dass er endlich seine Säue aus dem Selbstzensur-Stadl durchs Potemkinsche Mediendorf mit dem hübschen, in die Irre führenden Namen "Meinungsvielfalt" triebe und einen veritablen Skandal hervorriefe, an dem sich FeministInnen und andere BerufsbeklopptInnen die Kehlen heiser schreien könnten, was den angenehmen Nebeneffekt hätte, endlich ein paar Tage Ruhe vor ihren Hasstiraden auf alle Meinungsabweichler (geschätzte 99% der Bevölkerung, aber bitte nicht weitersagen!) genießen zu dürfen.

Abseits der wenigen Könner geschliffener Wortangriffe auf die Bastionen der Meinungshoheit, herrscht freilich der dumpfe Tenor der angeblichen Toleranz. Angeblich? Nanu? Hier stutzt der hirnbefreite Staatsbürger-Zombie: Wir leben doch in einer freien Gesellschaft in einem freien Land! Jeder darf hier tun und sagen, was er will.

Stimmt – solange er die ihn mit Propaganda fütternde Hand der Medienhuren, offiziell "freie Medien" geheißen, nicht beißt. Dabei spielt das persönliche Empfinden längst keine Rolle mehr. Wie auch, in einer kollektivistischen Gesellschaft, in der zwar Vielfalt angepriesen, aber in Wahrheit der genormte Einheitsmensch am Ende der segensreichen Verstaatlichung sämtlicher Lebensbereiche stehen soll. Kein Wunder, dass dem Europäer das US-amerikanische Ideal eines Minimalstaates, der für die innere und äußere Sicherheit sorgen und sich ansonsten aus dem Leben seiner Untertanen heraushalten soll, nicht einfach nur suspekt, sondern zutiefst zuwider ist und jeden Amoklauf in den USA mit dem "alles schießwütige Psychopathen, diese ungebildeten Rechtsfaschorassisten!"-Lippenreflex kommentiert und die Augen geflissentlich vor dem verschließt, was in den eigenen Ländern geschieht. Natürlich zum Wohle der Bevölkerung, denn von eigenen Gnaden hochdotierte Bürokraten in Brüssel, Berlin oder Wien wissen nun einmal, was am besten für Millionen ihrer Mitmenschen ist.

Beispielsweise das Anstimmen auf das Hohelied der Toleranz. Und das geht so: Man veranstalte einen kompliziert geregelten (schließlich befinden wir uns in der EU) Musikwettbewerb, der dazu dient, die Toleranz der Völker zu testen. Damit ist allerdings nicht jene Toleranz gemeint, den akustischen Geschmacksanschlag zu überstehen, ohne den Flachbildfernseher noch eine Spur flacher zu treten, sondern die reinste Form der Toleranz: Die wohlige Selbstbeweihräucherung als Bollwerk wider böse Andersdenkende. 2006 etwa sorgten die finnischen Metal-Muppets Lordi im Vorfeld des Song Contests für Aufregung: Darf man das? Sich verkleiden, anstatt die Titten und Ärsche der weiblichen Gesangssurrogate herauszustreichen? Man durfte. Man durfte so sehr, dass es geradezu dürftig wirkte. Und siehe: Lordi, Tage zuvor angefeindet, gewannen und eroberten die Herzen von Millionen einst Entrüsteten mit ihrem längst zum Evergreen avancierten Siegertitel … ach, wen juckt's! Abgesehen von "Waterloo" kennt doch ohnehin keiner mehr irgendeinen Song-Contest-Titel der letzten 50 Jahre. Schließlich steht nicht die Musik, sondern die "Message" im Vordergrund. Diese mag mal "guckt, wie doll ich meine lange Mähne im Windkanal wehen lassen und meine Möpse in die Kamera drücken kann!" lauten, oder auch "lassen wir zum Spaß mal eine Deutsche gewinnen, die wie eine mit Depressiva abgefüllte Religionslehrerin wirkt".

2014 lautete das Motto: "Als Zeichen der Toleranz soll ein Mann im Frauenfummel gewinnen! Huch, der trägt ja Bart! Dabei haben wir mit österreichischen Bartträgern in der Vergangenheit keine so gute Erfahrung gemacht … ach, egal: Toleranz, Toleranz!"

Gesungen wurde beim diesjährigen Song Contest auch. Ansatzweise. "Es gibt Rise, Baby", und zwar: "Rise Like A Phoenix". Ein sehr schönes Bild des Phönix, jenes mythischen Vogels, der mit seinen Flügeln ein ihn verzehrendes Feuer entfacht, und doch wenig später wieder aus der Asche entsteigen wird. Europa ist seit jeher der Phönix der Weltgeschichte. Tausende Male legten die Völker des Kontinents die Dörfer und Städte ihrer Gegner, mitunter auch ihre eigenen, in Asche, nur um nach der Katastrophe gestärkt hervor zu kehren. Den letzten Brand hätte sich der Phönix Europa besser erspart. Nicht, dass jene vorangegangen nicht gleichfalls Millionen Menschen weltlichen und körperlichen Besitz gekostet hätten. Aber der einst prächtige Vogel ist flügellahm und dekadent geworden. Fett und faul brütet er in seinem Nest darüber, welche wahnwitzigen Toleranz-Orgien er noch feiern könnte.

Wie wäre es damit? Wer dem Siegertitel nicht zujubelt, ihn nicht als musikalisches Juwel, glänzender als die Sonne auf den Arsch eines am Strand von Mallorca besoffen eingeschlafenen Provinz-Germanen scheinen kann, ehrfürchtig bewundert, ist ein homophober, intoleranter Dummdödel (ganz wichtig: Auf den Putz hauen! Unter "-phobie" und "Intoleranz" geht gar nichts!). Das hat auch der "Stern", das Leitmedium für Tagebuchschreiber, sehr richtig erkannt und ortet einen verkrampften Umgang Österreichs mit seiner Song-Contest-Siegerin.

Denn, Zitat: "Bei einem Online-Voting auf dieser Seite [Anmerkung: gemeint ist das Online-Portal der "Kronen Zeitung", der größten öst. Tageszeitung] beantworten 75 Prozent die Frage "Sind Sie stolz auf Conchita Wurst?" mit Nein. Erstaunlich, bei einem Land, das - mit Ausnahme von Wintersport - bei internationalen Großereignissen fast nie eine größere Rolle spielt."

Ein ungeheurer Affront gegen die Toleranz, das medial vorgekaute Einheitsgericht zu verschmähen! Folgerichtig schiebt der Stern der deutschen Zeitungslandschaft den völlig unverkrampft betitelten Artikel "Europas neue Toleranz ist trügerisch" hinterher und stellt betrübt fest (Zitat): "Wir Europäer sind ja so tolerant. Schön wär's". Strophe 1 des "ihr seid so intolerant!"-Chors klingt wie folgt (Zitat): "Homophobie ist in Europa noch immer weit verbreitet: Jeder Zweite hatte [Anmerkung: In einer EU-Studie] angegeben, im Jahr zuvor wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert worden zu sein, zwei Drittel trauen sich nicht, in der Öffentlichkeit Händchen zu halten."Nur ein Bösmensch könnte nachhaken und etwa die unglaublich menschenverachtende Frage stellen, ob subjektive Empfindungen die tatsächliche Faktenlage widerspiegelten.

Übrigens wurde der Artikelautor gleichfalls Opfer von Diskriminierung, indem 100% der Frauen jedes andere männliche Geschöpf ihm selbst vorziehen – Mami, Mami, rabäh! Außerdem traut er sich auch nicht, in der Öffentlichkeit in der Nase zu popeln und den Rotz am nächsten Kinderwagen (es heißt ja nicht umsonst "Rotzlöffel") abzuwischen. Ja, das sind die schwerwiegenden Diskriminierungen in einer Gesellschaft, die sich Frauenbeauftragte leistet, um auf die grauenhafte Unterdrückung der Frauen in Westeuropa zu reagieren, gleichzeitig aber den Dialog mit Kulturen und Ländern sucht, wo Mädchen zwangsverheiratet oder ermordet werden, wenn sie ihren Familien Schande bereiteten. Na, wenn das alle so machen würden! Wo würden dann die GrünInnen ihren politischen Nachwuchs rekrutieren?

Und was hat dies alles nun mit Toleranz zu schaffen? Geduld! Hier ist der springende Punkt. Zitat: "Fragt sich nur, wie diese Toleranz den Alltagstest besteht. In der U-Bahn am Sonntag war das Thema Conchita Wurst natürlich in aller Munde. Zwei junge Männer, die offenbar beide den ESC gesehen und für die Österreicherin gestimmt hatten, unterhielten sich über "diesen Freak", fanden ihn "ganz lustig", aber fragten sich auch, ob es nicht irgendwie "ekelig" wäre, eine Frau mit Bart zu küssen. Diese Szene spielte sich in einer deutschen Großstadt ab."O du liebe/r GottIn: Das ist ja grauenhaft! Anstatt über Kants kategorischen Imperativ zu diskutieren oder andalusische Kochrezepte auszutauschen, blöden zwei junge Menschen herum! Ganz ehrlich: Ich hätte die Gedankenpolizei informiert! Unter zehn Jahren verschärfter Haft mit Claudia Roth und Alice Schwarzer als zuständige Sozialarbeiterinnen wären diese Gedankenverbrecher bei mir nicht davongekommen!

Leider ist der betreffende Artikelautor selbst nicht frei von Gedankenschuld. Zitat: "Manchmal rutscht auch mir noch ein "voll schwul" aus dem Mund - und es meint nicht supergeil. Am liebsten würde ich dann im Boden versinken, auch wenn es wirklich nicht böse gemeint ist."Huch! Na, aber es ist ja nicht böse gemeint, da können wir noch einmal darüber hinweg sehen. Es ist ja längst wissenschaftlich erwiesen, dass beleidigende Wörter Menschen verletzen und sogar töten können. In Afrika sterben die Kinder ja auch nicht deshalb, weil sie von verantwortungslosen Eltern in die Welt gesetzt werden, wiewohl diese sie gar nicht ernähren können, oder weil ihre Regierungen von korrupten Dreckschweinen gebildet werden, sondern weil ab und zu mal jemand "Negerkind" sagt. Gerade im Hinblick auf die Verletzbarkeit von Menschen durch abweichende Worte oder Gedanken ist es wichtig, dem Mainstream zu folgen.

Diesen Rat befolgte zuletzt auch die FPÖ-Gouvernante H. C. Strache, der Tage vor dem Song Contest völlig ungeniert seine Gedanken äußerte, nach der Empörung darüber – und dem Wurst-Sieg – zurückruderte und Conchita doch noch gratulierte. Irgendwie war halt alles ein Missverständnis und natürlich hatte er es nicht so gemeint, wie er es fälschlicherweise gemeint hatte. Uff, gerade noch die Kurve Richtung politische Korrektheit gekratzt! Denn man stelle sich vor, die Leute dürften ihre eigenen Ansichten und Meinungen vor sich her tragen, anstatt der aktuellen politisch-gesellschaftlichen Strömung zu folgen. Schließlich ist mit Toleranz, Freiheit oder Diversity nicht gemeint, dass jeder Mensch frei seine persönliche Meinung äußern sollte. Vielmehr ist Toleranz eine Einbahnstraße, in der es keinen Gegenverkehr zu geben hat.

Dafür hat also der einst stolze Phönix Europa geblutet: Dass nach Abschaffung all der Despoten oder dem leider nur temporären Ausschluss geistesgestörter religiöser Fanatiker (ein Pleonasmus, ich weiß) Andersdenkende öffentlich geächtet werden. Von einem dieser Andersdenkenden, der gleichfalls brav und gehorsam zurückruderte, stammt der Songtitel "Good Old Europe Is Dying". Wie recht er damit hatte, erweist sich in zunehmendem Maße. Deutschland hat sich abgeschafft und mit ihm die europäische Idee grenzenloser Freiheit.

PS: Dieser Artikel ist selbstverständlich Satire und der Artikelautor malt sich in eben diesem Augenblick aus Freude über den grandiosen Song-Contest-Sieg seine Eier rot-weiß-rot an. Auf der FußgängerInnenzone. So viel Toleranz muss ja wohl sein!

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