Vermutlich wussten Sie das nicht, da unsere Vorstellungen von Märchen gleich zweifach gefiltert wurden: Zunächst durch die Märchensammlungen (Originaltitel: "Kinder- und Hausmärchen") der Gebrüder Grimm, später durch diverse Verfilmungen und Zeichentrickfassungen. Die Ursprünge vieler Märchen lassen sich nicht mehr nachverfolgen, handelte es sich doch um mündliche Überlieferungen, die zur Zerstreuung und Unterhaltung erzählt und weitergesponnen wurden. Dabei ist die Annahme, Märchen wären harmlose Kindergeschichten gewesen, die Erwachsene ihren Kinder oder Enkelkindern erzählt hätten, nur bedingt richtig. Manche Märchen richteten sich tatsächlich an Kinder und Jugendliche, waren dabei jedoch in einen moralischen Kontext eingewoben, der uns heute makaber oder sogar amoralisch erscheint.

Andere heute als Märchen titulierte Stoffe waren hingegen Erzählungen für Erwachsene und erotischen und gewalttätigen Inhalts. Die nachfolgenden 10 ursprünglichen Enden bekannter Märchen sind natürlich für Kinder nicht geeignet und mögen den geneigten Leser in Erstaunen versetzen, wie blutrünstig es einst in scheinbar harmlosen Märchen zuging. Bestimmt sehen Sie künftig Disney-Zeichentrickfilme wie "Dornröschen" mit anderen Augen …

1. Rotkäppchen: "Ich habe Großmutter verspeist!"

Das Ende, wie wir es kennen:

Der böse Wolf verschlingt nach der Großmutter auch das arme Rotkäppchen. Beide werden jedoch von einem Jäger gerettet, indem dieser den Bauch des Untiers aufschlitzt, ihn mit Steinen füllt und wieder zunäht. In einigen Versionen bekommt der Wolf, der offenbar über einen sehr tiefen Schlaf und hohe Schmerztoleranz verfügt, Durst, schleppt sich zum Brunnen, kippt hinüber und ertrinkt, da ihn die Steine nach unten ziehen.

 

Das ursprüngliche Ende:

Traue keinem Wolf über 4!Grimms Märchen ging unter anderem die Märchensammlung eines französischen Schriftstellers namens Charles Perrault voran, der wiederum auf Überlieferungen zurückgriff. In seiner Version endet das Märchen damit, dass Rotkäppchen vom Wolf gefressen wird. Pikanter noch: Zuvor fordert der als Großmutter verkleidete Wolf das Mädchen auf, sich doch zu ihm ins Bettchen zu legen, was das gehorsame Rotkäppchen auch macht. Nackt, nachdem sie vor dem Wolf einen Striptease hingelegt hat. Die Moral lautete somit wohl, nicht vom "rechten Weg" abzukommen und den Schmeicheleien und Beteuerungen von am Wegesrand lauernden Wölfen, sprich: Männern, nicht zu erliegen.

In einigen Versionen des Märchens bietet der Wolf dem hungrigen Rotkäppchen schmackhaftes Fleisch an. Rotkäppchen isst das Fleisch nichtahnend, dass es sich um die vom Wolf zerschnetzelte Großmutter handelt … auch Kannibalismus ist ein immer wiederkehrendes Motiv ursprünglicher Überlieferungen von Märchen.

 

Wissenswert:

Wölfe waren Menschen seit jeher unheimlich, auch wenn Wolfangriffe extrem selten waren. Aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts wird allerdings eine grausige Mordserie übermittelt, deren Ursprung höchstwahrscheinlich tatsächlich auf Wölfe zurückging und deren Motiv des sich "verkleidenden" Wolfes indirekt auf den Aberglauben des Werwolfes hinweist.

2. Schneewittchen: „Bringt mir Schneewittchens Herz … damit ich es essen kann!“

Das Ende, wie wir es kennen:

Nachdem Schneewittchen den vergifteten Apfel verspeist hat, fällt es in eine Art Koma. Die sieben Zwerge halten sie für tot und bahren sie in einem Sarg aus Glas auf. Zufälligerweise stattet ein attraktiver, junger Prinz den Zwergen einen Besuch ab, ist von Schneewittchens Schönheit überwältigt und küsst sie. Dieser Kuss erweckt die junge Frau wieder zum Leben, sie verliebt sich in den Prinzen und führt mit ihm ein langes, glückliches Leben.

 

Das ursprüngliche Ende:

"Das ist mein Herz!" - "Meines!" - "Gar nicht wahr, meines!"Naturgemäß reflektiert das uns geläufige Ende aus dem berühmten Disney-Zeichentrickfilm nicht das ursprüngliche, welches eher an Horrorfilme wie "Hostel", denn an ein harmloses Kindermärchen gemahnt. In der überlieferten Version endet die Erzählung am Königsschloss, wo Schneewittchen und der Prinz Hochzeit halten und unter anderem die böse Königin (Schneewittchens Stiefmutter) eingeladen haben. Diese folgt der Einladung tatsächlich, was sie wenig später bereut. Denn der Prinz lässt ihre Füße in vor Hitze glühende Eisenpantoffeln stecken, woraufhin sie vor Schmerz solange "tanzt", bis sie tot zusammenbricht.

Nun könnte man bereits der berühmten Zeichentrickversion von Disney drastische Bildsprache und verstörende Gewalt attestieren: Zum einen befiehlt die böse Königin dem Jäger den Mord an ihrem eigenen Stiefkind und fordert zum Beweis Schneewittchens Herz, woraufhin der gutmütige Jäger die junge Frau laufen lässt und stattdessen das Herz eines Ebers als Beweis für den Mord vorliegt. Zum anderen erscheint das Gebaren des Prinzen gruselig: Da jedermann Schneewittchen für tot hielt, muss man seinen Kuss eindeutig als Nekrophilie bezeichnen.

In der ursprünglichen Version ersucht der Prinz die Zwerge, ihm Schneewittchens Leiche zu überlassen, die er auf sein Schloss mitzunehmen plant. Bei der Überführung der Leiche stolpert ein Diener jedoch, der Sarg kracht zu Boden, das vergiftete Apfelstück fällt bei dem Aufprall aus Schneewittchens Hals und sie erwacht wieder zum Leben. All dies kann aber nicht davon ablenken, dass der Prinz die Leiche einer jungen Frau in seinem Schloss aufbewahren wollte!

Falls Sie dies bereits als schaurigen Höhepunkt erachten, so haben Sie nicht mit dem Erfindungsreichtum der bösen Königin gerechnet. Diese beauftragt den Jäger auch in der Originalversion mit dem Mord an Schneewittchen und damit, als Beweis für den Auftragsmord Lunge und Leber des Mädchens zurückzubringen. Da es dieser nicht übers Herz bringt, Schneewittchen zu töten, bringt er der bösen Königin die Lunge und Leber eines Ebers zurück. Und jetzt wird es so richtig gruselig: Die Königin lässt die Organe kochen und verspeist sie. Wohlgemerkt: Sie isst menschliche Organe in der Annahme, diese stammten von ihrer eigenen Stieftochter!

Letzteres geht natürlich auf den Mythos zurück, die Kraft – oder in diesem Falle die Schönheit – des Verspeisten auf den eigenen Körper zu übertragen. Was hingegen der Prinz mit der Leiche anstellen wollte, möge sich jeder selbst ausmalen …

 

Wissenswert:

Disneys "Schneewittchen und die sieben Zwerge" war 1937 der erste abendfüllende Zeichentrickfilm Disneys. Entgegen Prognosen konkurrierender Studios wurde der auf Grund von Walt Disneys Perfektionismus extrem teure Film ein Kassenschlager und schuf somit die Basis für viele weitere Märchenverfilmungen. Fälschlicherweise wird "Schneewittchen und die sieben Zwerge" manchmal als der erste abendfüllende Zeichentrickfilm der Filmgeschichte bezeichnet – tatsächlich fällt diese Ehre aber dem bereits zwei Jahrzehnte zuvor produzierten argentinischen Zeichentrickfilm "El Apóstol" zu.

3. Dornröschen: "Ich heirate meinen Vergewaltiger!"

Das Ende, wie wir es kennen:

In Folge eines Fluches schläft Dornröschen exakt hundert Jahre in einem Turmzimmer, ehe ein Prinz sie wachküsst. Die beiden verlieben sich augenblicklich ineinander und heiraten.

 

Das ursprüngliche Ende:

Wartet Dornröschen im Turm?Disneys wenig erfolgreicher Zeichentrickfilm aus 1959 hält sich erstaunlich nahe an der Vorlage, mit Ausnahme des Alters der Protagonistin: In der Filmadaption sticht sich Dornröschen an ihrem 16. Geburtstag an der verhängnisvollen Spindel, in Grimms Märchen ist es der 15. Geburtstag. Aus westeuropäischer Sicht mag Dornröschen somit noch als unreif erscheinen, doch in vielen Staaten, darunter die USA, wobei das Einverständnis der Eltern bzw. eines Richters vorausgesetzt wird, ist Sechzehnjährigen die Heirat erlaubt. Dem Prinzen selbst dürfte es entweder entgangen oder gleichgültig sein, dass er eine hundertfünfzehnjährige Frau heiratet.

Oh, und dann gibt es noch eine Kleinigkeit, in der Disneys Zeichentrickadaption und Grimms Märchen von der ursprünglichen Überlieferung abweichen. In dieser wird Dornröschen nicht vom Kuss des Prinzen geweckt, sondern vom Saugen eines Kindes an ihrem Finger. Eines ihrer eigenen beiden Kinder, die sie während ihres Schlafes zur Welt gebracht hat, nachdem sie vom Prinzen vergewaltigt worden war. Eine nettere Umschreibung dürfte unmöglich zu finden sein. Der Prinz fand die schlafende Schönheit vor, begehrte sie und verging sich an ihr. Doch auch in dieser Version gibt es ein Happyend: Dornröschen heiratet jenen Mann, der sie vergewaltigt und geschwängert hat. Welche Moral sich daraus ableiten lässt, ist dem Artikelautor allerdings ein Rätsel …

 

Wissenswert:

Das Motiv der durch einen Zauber in Schlaf versetzten Schönheit geht vermutlich auf das nordische Sagenwerk der Edda,  zurück, in der die junge Brünhild von Odin persönlich in Schlaf versetzt wurde.

4. Hänsel und Gretel: "Schlitzen wir ihr doch die Kehle auf!"

Das Ende, wie wir es kennen:

Die böse Hexe heizt den Ofen an, um den gemästeten Hänsel zu braten, und befiehlt Gretel nachzusehen, ob der Ofen schon heiß genug sei (Anmerkung: Ergibt das Sinn für Sie?). Gretel gibt vor, zu klein für die Erledigung dieser merkwürdigen Aufgabe zu sein, und schubst die Hexe in den Ofen, als diese selbst nachsehen möchte. Die Hexe verbrennt bei lebendigem Leibe, Hänsel und Gretel plündern das Hexenhaus und kehren als vermögende Kinder zu ihrem Vater zurück.

 

Das ursprüngliche Ende:

Ob es dafür auch ein Kochbuch gibt?Hänsel und Gretel speist sich in der uns bekannten Form aus mehreren französischen Quellen, insbesondere aus dem "Kleinen Däumling" von Charles Perrault. Darin sind es allerdings nicht Hänsel und Gretel, sondern sieben Brüder, die von ihren bitterarmen Eltern im Wald ausgesetzt werden. Nachdem Vögel die Spur aus Brosamen aufgefressen haben, irren die Kinder im Wald umher und finden schließlich ein Haus. Dieses gehört keiner Hexe, sondern einem Oger, der darin mit seiner Frau und sieben Töchtern haust. In Abwesenheit ihres Göttergatten nimmt Frau Oger die Menschlein auf und versteckt sie unter dem Bett, damit sie ihr Mann nicht frisst. Dieser riecht bei der Rückkehr das Menschenfleisch und will die Brüder sofort verschlingen, doch seine Frau überredet ihn die dürren Kinder zu mästen, bis sie mehr Fleisch an den Knochen haben. Die Menschenkinder müssten im selben Zimmer wie die Ogertöchter schlafen und bemerken, dass jede von ihnen eine Krone trägt. Heimlich stibitzen die Brüder die Kronen und setzen sich diese selbst auf – in weiser Voraussicht, denn sturzbetrunken beschließt der Oger nicht länger zu warten und die Menschlein zu fressen. Im Dunkeln tastet er nach jenen Kindern, die keine Krone tragen, und schlachtet alle sieben in der Annahme, es müsse sich um die Menschenkinder handeln. Erst nachdem er allen die Kehle durchgeschnitten hat bemerkt er, dass er seine eigenen Töchter geschlachtet hat.

In einer ähnlich gelagerten Erzählung werden die Geschwister Jean und Jeanette von ihren Eltern im dunklen Wald ausgesetzt und irren ziellos umher, bis sie ein Häuschen entdecken. Eine Frau lässt sie ins Haus, bedeutet ihnen jedoch still zu sein, damit ihr Gatte nicht aufwache und fresse – bei diesem handelte es sich um keinen Geringeren als den Teufel selbst. Unglücklicherweise kann sie dieser jedoch riechen, da es sich um Christenkinder handelt, verprügelt seine Frau und sperrt Jean ein um ihn zu mästen. Er zwingt Jeanette, ihrem Bruder Essen zu bringen, und verlangt nach einigen Tagen, dass sie eine seiner Fingerkuppe abschneide damit er sehen könne, ob Jean fett genug sei. Statt der Fingerkuppe bringt sie ihm ein Stück eines Rattenschwanzes. Der Teufel durchschaut den Trick aber und befiehlt seiner Frau, den Jungen auf einen Zimmerbock zu legen, ihm die Kehle durchzuschneiden und ihn ausbluten zu lassen. Derweil werde er einen Spaziergang einlegen (vermutlich, um seinen Appetit zu steigern). Jean und Jeanette geben aber vor nicht zu wissen, wie man sich auf einen Zimmerbock lege, woraufhin ihnen die Frau des Teufels exakt dies vorexerziert. Ein Fehler, denn die cleveren Kinder binden die Frau fest, schlitzen ihr wiederum die Kehle auf und flüchten mit dem Gold und Silber des Teufels.

 

Wissenswert:

Nebst zahlreichen an das Märchen angelehnten Verfilmungen, knüpfte der 2013 produzierte Fantasyfilm "Hänsel und Gretel: Hexenjäger" am Schluss der Geschichte an und spinnt diese weiter: Der inzwischen erwachsene Hänsel leidet auf Grund der Süßigkeiten an Diabetes und hat es sich zum Ziel gesteckt, gemeinsam mit seiner Schwester alle Hexen dieser Welt zu vernichten.

5. Die kleine Meerjungfrau: "Ich rette den Prinzen ... und der heiratet eine andere!"

Das Ende, wie wir es kennen:

In Disney Zeichentrickfilm "Arielle, die Meerjungfrau" verliebt sich Arielle in den hübschen Prinzen Eric. Nach allerlei Querelen durch die böse Meereshexe Ursula gibt es doch noch ein Happyend, da der gute Meereskönig Arielle in eine Menschenfrau verwandelt und sie somit an Land leben und ihren Prinzen heiraten kann.

 

Das ursprüngliche Ende:

Die kleine MeerjungfrauHans Christian Andersens Märchen endet nicht ganz so glücklich, jedenfalls nicht für die kleine Meerjungfrau. Zwar rettet sie dem feschen Prinzen das Leben, indem sie ihn nach einem Schiffsbruch an den Strand bringt. Doch als er die Augen aufschlägt erblickt er eine schöne Frau, die er für seine Lebensretterin hält. Um den Prinzen doch noch für sich zu gewinnen, bittet die Meerjungfrau die von allen Meeresbewohnern gefürchtete Meerhexe um Hilfe. Diese verabreicht ihr einen Trunk, der ihren Fischschwanz in Beine verwandelt – ein Prozess, der nicht rückgängig gemacht werden könne. Als wäre dem nicht genug, wird sich jeder Schritt an Land mit ihren neuen Füßen anfühlen, als liefe sie über Messerspitzen, und sie müsse auf ihre Stimme verzichten. Oh, und da sie als Geschöpf des Meeres über keine unsterbliche Seele verfügt, könne sie nur dann eine bekommen, wenn sie von einem Menschen aufrichtig geliebt werde. So dies nicht der Fall sei, werde sie sich im Meer in "Schaum" auflösen.

Nachdem die Meerjungfrau mit ihrer Familie gebrochen hat, da sie nicht mehr im Meer leben kann, jeder Schritt an Land Höllenschmerzen verursacht und das Erlangen einer Seele von der Liebe des Prinzen abhängt, erkennt dieser den Irrtum und verliebt sich in sie, seine wahre Retterin, richtig?

Nicht ganz: Sie findet heraus, dass der Prinz sich in das andere Mädchen verliebt hat, das zufälligerweise eine Prinzessin ist, und sie zu heiraten beabsichtigt. Wie sie herausfindet, würde sie nach der Hochzeit der beiden sterben. Allerdings könnte sie ihr Leben retten, indem sie den Prinzen tötete. Daraufhin würde sie sich wieder in die Meerjungfrau zurückverwandeln und könnte ihr gewohntes Leben fortführen. Verständlicherweise ist sie für einen Mord nicht in der Lage und geht deshalb zurück ins Wasser, wo sie sich wie von der Meerhexe vorhergesagt in Schaum auflöst. Abgesehen vom Schaum bleibt noch ein fahler Nachgeschmack zurück: Der Prinz weiß von dem ganzen Drama nichts und feiert seine Hochzeit. Tragisch? Happyend? Tragikomisch?

 

Wissenswert:

Dass Meerjungfrauen nicht real existieren, sollte jedem bekannt sein. Sollte, denn nachdem 2012 der US-Fernsehsender Discovery Channel die Pseudo-Dokumentation "Mermaids: The Body Found" ausgestrahlt hatte, gingen zahlreiche Briefe bei der US-Behörde Nationale Ozean Service (NOS) ein, in der gefragt wurde, ob Meerjungfrauen tatsächlich existierten. Der NOS sah sich zu einer offiziellen Presseaussendung genötigt in der erklärt wurde, dass es "keine Beweise für im Wasser lebende Humanoiden" gäbe. 

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