Karl Brenke, Arbeitsmarkt-Experte des DIW

Konstruktiv-kritisch: Karl Brenke (Bild: diw)

Eine alarmierende Studie

Die Reallöhne in Deutschland sinken auf breiter Front, und dies seit spätestens elf Jahren. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat Daten vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass fast alle - Besserverdiener und Geringverdiener - heute unter dem Strich weniger Einkommen haben als zur Jahrtausendwende.

Das ist neu. Bislang war die Annahme verbreitet, dass vor allem Beschäftigte mit geringem Einkommen Einbußen bei den realen Nettolöhnen hinnehmen mussten. Die Expansion der Minijobs, die Umstrukturierung von Arbeit aus tariflicher Beschäftigung zu Leih- und Zeitarbeit, die Ausweitung von Scheinselbständigkeit hat in der Tat eine massive Einkommensumverteilung zulasten der Arbeitnehmer nach sich gezogen, die sich in nationaler und branchenübergreifender Dimension vollzog. Die Folgen sind allerorts zu besichtigen: Der schmale Geldbeutel treibt die Menschen in Massen zu Aldi und ebay. lässt sie regelmäßig die Mülltonnen inspizieren und weggeworfene Zigarettenkippen recyceln. Der Prozess der Verarmung hat ein Tempo erreicht, dass historisch beispiellos ist.

Das DIW stellt nun fest, dass auch die mittleren und überdurchschnittlich Verdienenden in den Sog des Reallohnschwundes hineingeraten sind. Aufgeschlüsselt nach zehn Gehaltsgruppen, ergibt sich mit Ausnahme der obersten Gruppe für die letzten fünf Jahre ein Rückgang des realen Stunden-Nettolohn zwischen 1,3 und 2,2 Prozent. Nur die höchste Gehaltsgruppe, das winzige Segment der Spitzenverdiener konnte seine Besitzstände erfolgreich verteidigen: Hier ergibt sich mit minus 0,1 Prozent ein Bild der Stagnation.

Soziale und ökonomische Auswirkungen

Die festgestellte Entwicklung verletze nach Ansicht von DIW-Vorstandsvorsitzendem Gert Wagner und DIW-Arbeitsmarktexperten Karl Brenke "nicht nur die Gerechtigkeitsvorstellungen in breiten Teilen der Bevölkerung, sondern bremst auch das nationale Wirtschaftswachstum".

Genau das musste einmal von autorisierter Stelle gesagt werden. Bislang überwogen die neoliberalen Apologeten des Spätkapitalismus, die den engen Gürtel, die Wespentaille als Tugend predigten, als Voraussetzung eines "nachhaltigen Aufschwungs" priesen. Unter diesem politisch umgesetzten Credo wurde die Binnennachfrage in Deutschland kaputt gemacht. Das Land ist heute allein auf den Export seiner Produkte angewiesen, fallen die Auslands-Aufträge aus, droht ein Kollaps. Brenke empfiehlt folgerichtig eine Stärkung der Binnennachfrage durch "kräftige Lohnanhebungen auf breiter Front". Hilfreich wäre nach seiner Ansicht auch, wenn die Löhne ebenso stark wie die Vermögenseinkommen wachsen würden.

Soziale Verwerfungen bestimmen das Bild der deutschen Gegenwarts-Gesellschaft. Das Land steht im Bevölkerungsnachwuchs an letzter Stelle Europas. Und die wenigen Kinder geraten überproportional in den Kreislauf von Hartz IV und Armut, werden nicht selten kriminell. Als potentielle Arbeitskräfte kommen sie immer weniger in Betracht. Die deutsche Wirtschaft will sie auch nicht, sie rekrutiert ihren Nachwuchs bevorzugt im Ausland.

Deutsche Mentalität und Manipulation

In welchem Lande wollen wir eigentlich leben? Zuweilen hat man den Eindruck, dass der legendäre deutsche Gehorsam, die historische Obrigkeitshörigkeit zu einer Leidensfähigkeit und -willigkeit geführt hat, die bereits masochistische Ausmaße erreicht hat. Ein Bekannter aus Frankreich hat mich einmal gefragt, was eigentlich in Deutschland noch passieren müsse, damit die Menschen sich endlich einmal wehren. Wissen Sie, wann in Deutschland das letzte Mal ein Generalstreik stattfand? Vor über neunzig Jahren, die Arbeiter verhinderten damals den militaristisch-monarchistischen Kapp-Putsch.

Das beleuchtet ein massenpsychologisches Phänomen. Gewiss ist die eigene nationale Mentalität das größte Problem des Deutschen. Doch das ist es nicht allein. Auch die zunehmende Vergreisung der Gesellschaft und der dadurch bedingte natürliche Rückgang von Kritikfähigkeit, eine systematische Fehlerziehung und nicht zuletzt die massenwirksame Manipulation haben den Zustand der Erstarrung abgerundet. Anspruchslosigkeit des Geistes, Anspruchslosigkeit in der politischen wie wirtschaftlichen Gestaltungskraft.

Ich muss es so drastisch betonen; Die Manipulation funktioniert hierzulande weitaus besser als in anderen Ländern, nicht nur dank der medialen Übermacht von "Bild" und Privatfernsehen. Das Wunschdenken von einem angeblich starken deutschen Konjunkturaufschwung wurde systematisch verbreitet und fand auch Eingang in die Hirne von Menschen, die ansonsten als relativ intelligent gelten können. Der Mechanismus ist bestechend einfach: Man muss eine Botschaft  hundertmal hören, dann glaubt man daran. Die Behauptung wird in der öffentlichen Wahrnehmung zur offenkundigen Tatsache, wenn sie nur oft und frech genug wiederholt wird.

Raffinierter Demagoge: Hugo Müller-Vogg
Hugo Müller-Vogg ist Kolumnist der ...

Hugo Müller-Vogg ist Kolumnist der Bild-Zeitung (Bild: wdr-online )

Deutschland und Europa

Manische Sparsamkeit ist nicht nur oberste Maxime des deutschen Staates, sie ist auch im privaten Konsum seiner Bürger angekommen - notgedrungen. Doch in der Sparsamkeit verkümmert das Potential. Deutschland schädigt nicht nur sich selbst, es droht auch als Infektionsherd ganz Europa nach unten zu reißen. In keinem unserer Nachbarländer ist ein in Ausmaß und Intensität vergleichbarer sozialer Abstieg festzustellen, weder in Frankreich noch in Österreich, nicht in Skandinavien und auch nicht in Spanien - trotz der dort grassierenden Krise.

Der deutsche Stammtisch, nicht eben ein Forum des geballten Sachverstandes, hat Wutreflexe gegen die protestierenden Südländer produziert. Da ist sie wieder, die deutsche Mentalität und Leidensfähigkeit und auch Verbohrtheit, die etwas an den Musterschüler erinnert, den es stört, wenn andere herumtollen oder gar die Schule schwänzen. Doch der Musterschüler war und ist unter den Klassenkameraden nicht beliebt. 

Die Hoffnung ist gering, dass sich die Dinge hierzulande zum Besseren wenden. Die notwendigen Korrekturen in Wirtschaft und Politik erfordern zuerst eine geistige Erneuerung der Menschen - auf ganzer Breite. Nur dann können sich auch Persönlichkeiten entfalten, die die Kraft aufbringen, das Notwendige zu tun. Das könnte in concreto die allfällige Einführung eines Mindestlohns sein, der nicht unter 15 € pro Stunde liegen sollte. Hartz IV sollte endlich das Existenzminimum gewährleisten, das man auch einmal neu definieren müsste. Aus der Lebenserfahrung ist zu konstatieren, dass ein menschenwürdiges Leben schon 500 € pro Monat erfordert. Netto.

Kraftvolle Persönlichkeiten gab es ja schon in der Geschichte - denken wir an Martin Luther, an Otto von Bismarck, an Ferdinand Lassalle oder auch an Helmut Schmidt. Schauen wir auf die derzeitigen Akteure: Westerwelle und Rösler, Ramsauer und Merkel. In der Opposition sieht es auch nicht besser aus. Das erklärt eigentlich alles. Vielleicht kommen helfende Impulse aus Europa, die das deutsche Verbohrtsein, die Erstarrung aufbrechen.

Autor seit 12 Jahren
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