Gehört der mittlerweile 90-jährige Klassiker Ellsworth Kelly, der älteste in dieser Kollektion vertretene Künstler, wirklich noch zur Vorhut der Szene? Ist der Kitsch- und Pornokünstler Jeff Koons tatsächlich noch so aufregend provokativ wie in den 1990er Jahren, als er unter anderem sein Intimleben in expliziten Glasskulpturen verarbeitete? Hat Neo Rauch seinen sozialistischen Mythen und Mythologien im neuen Jahrtausend etwas grundlegend Neues hinzufügen können?

Vom "gay life" in die Natur

David Hockney, der britische Chronist des kalifornischen "gay life", hat zumindest die Natur neu entdeckt und sie in großflächigen, kräftigen Grün- und Violetttönen verfremdet. Und der dritte im Bund der im Buch erwähnten Überachtzigjährigen, Gerhard Richter, taucht ab in die eigene Vergangenheit, um die malerischen Vorlagen für die Gegenwart neu zu bearbeiten.

Keine Frage: Im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht der Herausgeber Hans Werner Holzwarth einen Überblick zu geben, aber dieser Rahmen umfasst eben nur 600 Seiten. Was sich zunächst einmal nach viel anhört. Herausgekommen ist letztlich doch nur eine (in bestimmten Maßen gewiss auch subjektiv geprägte) Auswahl an weltweiter Kunst, die auch nicht unbedingt brandneu, also "now" ist. Weit über die Hälfte der Künstler ist bereits im vor fünf Jahren erschienenen Vorgängerband vertreten; sie galten schon damals nicht unbedingt als Vorhut der Szene.

Geld spielt (k)eine Rolle

An wen also richtet sich der Band? An Galeristen wohl kaum; der (betuchte) Kunst-Aficionado hat andere Quellen, um sich über die jüngsten Trends zu informieren: Er reist von Messe zu Messe und Galerie zu Galerie, um gegebenenfalls die eigene Sammlung zu erweitern. Um weniger finanzstarken Interessenten mitzuteilen, dass sie von derlei Orten besser fernbleiben, ist im Anhang der Verkaufswert einiger Kunstwerke aufgelistet: Unter 20.000 Euro, also vergleichsweise einem Taschengeld, ist nur ein einziger Künstler, Carsten Höller, mit einer Fotografie dabei (der "Giulianova New Eagles" betitelten Jahrmarktsszene von 2007). Nach oben sind dagegen keine Grenzen gesetzt; Kunst im zweistelligen Millionenbereich ist ja mittlerweile gang und gäbe und der Kunstmarkt längst zur Aktienbörse der sich gern als schön- und feinsinnig gerierenden Zeitgenossen geworden.

In die Klassiker zu investieren ist einigermaßen risikolos. Auch bei Künstlern, die einmal hoch gehandelt wurden (siehe Jeff Koons) und sich derzeit im Sinkflug befinden, ist man auf der sicheren Seite, wenn man ihre Werke abstößt, solange sie noch Gewinn bringen. Wie aber steht es um jene Kunstschaffenden, die derzeit (noch) von Galerie zu Galerie gereicht werden, deren Werke jedoch eine Halbwertzeit mit auf den Weg gegeben scheint?

Etwa die zwischen poppigem Kitsch und sanftem Grusel angesiedelten Puppenbilder von Mark Ryden? Die naturwissenschaftlichen Abhandlungen nachempfundenen Darstellungen von Wölfen, Bären und Krokodilen Walton Fords, ironisch gebrochen durch kleine Details wie die Hand im Maul des Wolfes, der zubeißen wird, sobald die Zange an seiner Hinterpfote zugedrückt wird? Die grotesk-skurrilen Knetfiguren der schwedischen Künstlerin Nathalie Djurberg, die in ihren Animationsfilmen zum Leben erwachen?

Spaziergang durch Galerien und Sammlungen

Die Antwort auf diese Fragen ist ebenso spekulativ wie der volatile Kunstmarkt selbst. So wird das üppige Taschen-Buch zu einer Momentaufnahme, ermöglicht einen Spaziergang durch zahlreiche Galerien, Sammlungen und Ausstellungen. Was man auf dieser Tour sieht, wo man hinschaut oder rasch weiterblättert, ist letztlich zufällig – wie Entdeckungen bei einem ziellosen Bummel durch die Straßen einer fremden Stadt. Mehr kann ein solcher Band nicht leisten. Aber das immerhin ist schon eine Menge.

Einen besonderen Fokus legt das Buch auf die aktuellen Tendenzen der Kunst im fernen Osten. China, Japan und Korea werden in ausführlichen Essays gewürdigt, die "neuen Spielregeln für die Kunst" – so der Titel eines Beitrags von Karen Smith – aufgezeigt. Aber auch die können in fünf Jahren schon wieder vollkommen anders sein.

Vielleicht werden wir darüber mehr im Band "Art now Vol. 5" erfahren.

 © Rainer Nolden

 

Hans Werner Holzwarth (Hrsg.): Art now, Vol. 4. Taschen Verlag Köln, Texte auf Deutsch, Englisch und Französisch, 576 Seiten, 39,99 Mark.

 

 

Autor seit 10 Jahren
15 Seiten
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