Eine Mischung aus Utopie und Nostalgie

Heimliches Berlin

© Ballhaus Ost

 

Die Wohnung besteht aus einem Gerüst, das in zwei Stockwerke unterteilt ist. Unten ist ein behelfsmäßig eingerichteter Leberaum, oben steht ein gläsernes Gewächshaus, aus dem Margot (Tina Pfurr), die Schwägerin Clemens', herauskommt und sich mit fremder Hilfe auf den Boden hangelt. Angesichts des Gebäudes, an das eine Bar angebunden ist, erlebt Clemens (Toni Jessen) eine Atmosphäre Neuer Sachlichkeit, eine Abgrenzung zum Expressionismus. Der Geist des Vergangenen solle mit Gewalt verlebendigt werden. Und wie sieht Wieland Schönfelders Wendelin das Leben? Eine Mischung aus Utopie und Nostalgie, dazwischen etwas Provisorisches. Ohnehin schwankt die Welt zwischen Aussichtslosigkeit und Hoffnung. Ein Trümmerhaufen, in den sich Erneuerungsgedanken mischen. Das Leben West-Berlins von 1924, hin- und herpendelnd zwischen Resignation und bohemehafter Ungebundenheit, aber der Regisseur Schrader hat daraus eine Gesellschaftskomödie gemacht und den Bogen noch weiter gespannt. Die Personen reden von der Paris Bar, die es damals noch gar nicht gab. In der Paris Bar wären sie womöglich nur Parias gewesen. Orte und Vergnügungszentren tauchen auf, die erst wesentlich später, also nach den 20er-Jahren aktuell wurden.

 

Rivalität ohne Rivalitätsdenken

Selbstverständlich wird auch das Lied "Kreuzberger Nächte sind lang" gesungen, übrigens recht originell. Irgendwann erscheint der reiche Lebemann Eißner (Andreas Klopp) auf der Bildfläche, und auch mit ihm will die lebensgierige Karola (Gina Henkel) durchbrennen. Karola, die immer das möchte, was sie nicht hat, erklärt Clemens die Ausweglosigkeit seines bürgerlichen Lebens. Längst hat Wendelin Clemens gegenüber seine Verehrung Karolas gestanden, doch der Professor bleibt kühl und relativ gelassen und verweigert ein Rivalitätsdenken: Er goutiert vor allem eine ästhetische Weltsicht und braucht die Dinge nur anzusehen, ohne sie zu haben. Das Besitzergreifen ist seine Sache nicht. Gina Henkel, überspannt agierend und in einem weiten Katastrophen-Kurzrock steckend, verspielt durch ihr fortwährendes Chargieren einiges an ihren Möglichkeiten. Und Wieland Schönfelder als Wendelin ist ein Bruder Leichtfuß mit sonnigem Gemüt, der seine Gefühle nicht allzu ernst zu nehmen scheint. Ina Tempel geriert sich als mitspielender, hypertropher Dekor, der sich gerne auf einem Holzbett lümmelt und rauft. Irgendwann verschwindet Wendelin im Glaskasten und malträtiert sich ein wenig, bis der nackte Hintern Hummerröte erreicht. Dort ist auch der Ort, wo ein unerklärlicher Doppelfreitod stattfindet, Karola und ihr Partner verenden in glühendem Rotgeflacker. Die Inszenierung geht durch, wenn man das Buch nicht gelesen hat. Insgesamt ist der Abend zu verspielt.

Heimliches Berlin

nach Franz Hessel

Regie: Daniel Schrader, Bühne: Wieland Schönfelder, Kostüme: Nina Kroschinske, Musik: Conrad Rodenberg, Dramaturgische Mitarbeit: Nicola Ahr, Licht: Volker M. Schmidt.

Mit: Gina Henkel, Ina Tempel, Tina Pfurr, Wieland Schönfelder, Toni Jessen, Andreas Klopp.

Ballhaus Ost Berlin

Premiere vom 28.08.2014

Dauer: ca. 1 Stunde, 40 Minuten, keine Pause

 

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