Berlin-Tempelhof: Eine Zeitreise

Für meinen Besuch habe ich mir ganz bewusst einen Wochentag ausgesucht. Es ist Mitte März und ungewöhnlich warm. Der Frühling hält Einzug in Berlin, schon seit Tagen. Dennoch hängt heute ein leichter, hochnebelartiger Dunst in der Luft, der sich hartnäckig behauptet.
Meine Tour beginnt am nordwestlichen Rand des Tempelhofer Feldes, an der U-Bahn Station mit dem geschichtsträchtigen Namen "Platz der Luftbrücke".

Tatsächlich wurden zwischen Juni 1948 und Mai 1949, während der sowjetischen Blockade der Westsektoren Berlins, die Flüge der legendären "Rosinenbomber", mit denen die Westalliierten die Versorgung der Berliner Bevölkerung sicherstellten, zum großen Teil über den Flughafen Tempelhof abgewickelt. Ein Denkmal auf dem Platz erinnert an dieses Schlüsselereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dahinter erheben sich, graubraun und ziemlich monumental, die Muschelkalkfassaden der in den 1930er Jahren errichteten Flughafengebäude. Ihre Herkunft aus der Zeit des Nationalsozialismus sieht man ihnen an. Schön ist was anderes, denke ich mir.

Doch allem Unbehagen beim Anblick der protzigen Bauten zum Trotz sollte man nicht vergessen, dass es sich bei dem vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht mehr fertiggestellten Komplex um das seinerzeit modernste Konzept für die Gestaltung eines Großflughafens handelte: In Berlin-Tempelhof wurden erstmals getrennte Ebenen für Passagier- und Frachtverkehr eingerichtet. Die Gebäude sollten nicht nur der Verwaltung dienen sondern auch Platz bieten für Restaurants, Hotels und andere Serviceleistungen. Heute selbstverständlich, damals eine unerhörte Neuheit. Zu Recht steht das Areal heute unter Denkmalschutz. Eine Ernennung zum Weltkulturerbe wurde bei der UNESCO beantragt.
Flughafenhalle Temepelhof (Foto: Benjamin Braun)Ich bewege mich also auf historischem Gelände. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Aber die gläsernen Eingangstüren zum Terminal stehen offen. Darüber, heute seltsam verloren wirkend, in Leuchtbuchstaben die Aufschrift: Zentralflughafen.

Beim Betreten der einstigen Schalterhalle geht die Zeitreise weiter.
Die Architektur des Bauwerkes lässt nach wie vor die Gigantomanie seiner ursprünglichen Auftraggeber erahnen. Doch viel wurde in den 50er und 60er Jahren hinzugefügt, der Hochzeit des Tempelhofer Flughafens, nachdem dieser von der US-Armee wieder für die zivile Nutzung freigegeben worden war. Der Zeitgeist der Wirtschaftswunderjahre erscheint hier demzufolge allgegenwärtig.

Die leere Flughafenhalle hat etwas von einem Museum, gleichzeitig wirkt sie jedoch auch wie eine Filmkulisse. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie hier die Passagierströme abgefertigt wurden. Jeden Moment, so scheint es, könnte das Gepäckband am hinteren Ende der Halle wieder anfangen, sich zu drehen; könnten Scharen von Menschen das Gebäude füllen: Reisende nach einem langen Flug, etwas erschöpft, aber glücklich über ihre Ankunft; Stewardessen in altmodischen Uniformen mit ihren Köfferchen; Geschäftsleute, Menschen auf der Suche nach ihren Lieben. Und sind da nicht Stimmen zu hören aus dem Restaurant ein Stockwerk höher? ehemalige Schalterhallle Tempelhof (Foto: Benjamin Braun)Ein surrealer Ort, so empfinde ich es beim Gang durch die Halle. Halb Industriedenkmal, halb Theaterbühne. Inspirierend und ein wenig unheimlich.

An einigen der aufgelassenen Schalter prangen noch die Namen jener Billigfluglinien, die Berlin -Tempelhof in den letzten Jahren vor seiner Schließung noch angeflogen haben. Da hatten sich die Großen der Branche längst auf den kapazitätsstärkeren Flughafen Tegel verlagert.

 

 

Eine Idylle auf dem Rollfeld

Durch das historische Flughafengebäude geht es hinaus auf das Rollfeld. Der erste Eindruck: Weite. Vor mir liegt ein riesiges Areal, das sich auf den ersten Blick nicht begrenzen lässt. Irgendwo in der Ferne, verschwommen durch den Dunst, sieht man die Silhouette der Großstadt. Der Vorbau der Flughafenhalle, eine beeindruckende Stahlkonstruktion, wölbt sich über mir. Am Rand des Rollfeldes steht als Museumsstück eine einzelne Propellermaschine der US-Air Force, ein "Rosinenbomber" aus der Zeit der Berliner Luftbrücke. Die Geschichte dieses Ortes ist hier überall greifbar.

Ich lasse den Schatten der Stahlträger hinter mir und betrete den eigentlichen Flugplatz. Es stimmt: Wenn man sich umsieht auf dieser scheinbar endlosen Fläche, stellt sich rasch ein Gefühl von Befreiung ein. Dieser Ort, mitten in Berlin, bietet Platz. Für alles, was man sich denken kann.

Ein Musikfestival auf dem Gelände mit Zehntausenden von Besuchern? Warum nicht? Sportveranstaltungen, ein Open-Air-Kino mit der größten Leinwand der Welt? Die riesigen Grünflächen zwischen den Start-und Landebahnen neu bepflanzen und zur Parklandschaft mit Wasserflächen und Kletterfelsen umwandeln? Wohnhäuser darauf errichten? Oder ein Einkaufszentrum? Alles möglich – oder auch nicht. 

Vielleicht doch lieber einfach Drachen steigen lassen oder Modellflugzeuge (wo hat man schon einmal Gelegenheit, dies auf einem echten Flugplatz zu tun!), das Rollfeld per Fahrrad erkunden oder auf Inline-Skates erobern und anschließend auf den Wiesenflächen picknicken und die Sonne genießen?
Um mich herum gehen Menschen all diesen Beschäftigungen nach. Es ist was los auf dem Tempelhofer Feld, an einem ganz gewöhnlichen Wochentag im März. Aber das Gelände ist groß genug, um trotz zahlreicher Besucher dabei nahezu menschenleer zu wirken. Man kann sich ausmalen, wie es hier an einem sommerlichen Wochenende zugehen dürfte. Vermutlich hört man dann weniger Vogelstimmen.

Tatsächlich hat sich das Tempelhofer Feld in den fünf Jahren seit dem Ende des Flughafenbetriebes zu einem innerstädtischen Biotop entwickelt, das zahlreichen Tier- und Pflanzenarten als Lebensraum dient. Teile des Geländes wurden mittlerweile als Naturschutzzonen eingerichtet und dürfen nicht betreten werden. Auch für das Stadtklima Berlins sind die riesigen Freiflächen von Bedeutung: Sie sorgen für Luftbewegung und fördern die Abkühlung der Großstadt, deren Straßen und dichte Bebauung v.a. im Sommer die Luft regelrecht aufheizen.

Der ehemalige Flughafen eignet sich also tatsächlich bestens als Naherholungsgebiet. Und als solches haben die Menschen Berlins ihn auch längst angenommen. Spielwiese, Sportplatz oder das Paradies um die Ecke - das Tempelhofer Feld ist das, was man daraus macht.
Ein Ort, an dem die Zeit stehengeblieben scheint und ein Ort in Bewegung. Schon plant die Stadt Berlin im großen Stil eine (zumindest teilweise) Bebauung des Areals. Schon hat sich eine Bürgerinitiative dagegen formiert, die sich für den Erhalt des Tempelhofer Feldes in seiner jetzigen Form einsetzt. Ein offizieller Volkentscheid dazu wird im Mai 2014 stattfinden. Es ist eben nicht so einfach, in Berlin zur Ruhe zu kommen.

 

 

 

Berlin-Tempelho: Oase der Ruhe ...

Berlin-Tempelho: Oase der Ruhe statt Sinnbild für Lärm und Geschwindigkeit (Bild: Benjamin Braun)

So oder so: Es geht weiter

Noch sind auf den Rollfeldern deutlich die Markierungen für den Flugbetrieb zu erkennen. Nur hier und da zeigen sich erste Spuren von Verwitterung. Es ist Mittag und Berlin-Tempelhof, der Flughafen ohne Flugzeuge, liegt still und friedlich vor mir. Darin liegt sicherlich ein Grund für den eigentümlichen Reiz dieses Ortes, dem ich mich nicht entziehen kann: Man sieht sehr deutlich, welchem Zweck das Gelände einmal gedient hat. Aus einem Flughafen, Sinnbild für Lärm und Geschwindigkeit, ist eine Oase der Ruhe geworden, ein Ort der Entschleunigung. Es wirkt fast, als wollten sich die Menschen auf dem Tempelhofer Feld etwas wiederholen, was das sogenannte moderne Leben ihnen längst genommen hatte…

In meine Gedanken platzen zwei Skater, die mit Hochgeschwindigkeit das Rollfeld entlangjagen. Eine kurze Warnung und ich springe zur Seite. Ich sehe ihnen nach; sie verschwinden in Richtung Horizont vor der dunstigen Stadtsilhouette. Es ist wieder still auf dem Tempelhofer Feld. Und ich weiß jetzt, wie aus einem aufgelassenen Flughafen ein Sehnsuchtsort werden kann. Ein Freiraum für Möglichkeiten. Mitten in Berlin.

Das Tempelhofer Feld: der ...

Das Tempelhofer Feld: der aufgelassene Flughafen als Sehnsuchtsort der Großstadt (Bild: Benjamin Braun)

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