Berliner Ensemble: Kritik von "Eine Familie" - Oliver Reese
Regisseur Reese inszeniert Tracy Letts. Ein Verwandtschaftstreffen in Oklahoma gerät zur Katastrophe. Der amerikanische Traum wird intern zerstört.v.l. Oliver Kraushaar (Bill Fordham), Carina Zichner (Jean Fordham), Constanze Becker (Barbara Fordham), Katrin Hauptmann (Johanna Monevata) (Bild: © Birgit Hupfeld)
Sie schlagen Schatten, wollen aber nur Licht sehen
Aus diesem Grund wird ein Treffen freiwillig versprengter Verwandter anberaumt, das wahrhaft ein Leichenschmaus ist, neben den eigenen Leichen im Keller wird versucht, noch neue Leichen hinzuzufügen, ohne Rücksicht auf den - übrigens verjährten - Blutgedanken. Weitaus schlimmer als der Verstorbene ist seine hinterlassene Gattin, gespielt von Corinna Kirchhoff, die unter notorischem Tablettenkonsum ihren Ex-Gemahl an verbalen Vernichtungsstrategien noch weit übertrifft. Ihre ungraziösen Sticheleien könnten tödlich sein – aber in dieser offensichtlich abgehärteten Familie hat man sich schon längst daran gewöhnt. Der Ausnahmezustand scheint längst ein Normalzustand zu sein. Grandios: Die älteste Tochter Constanze Becker, die zum Glück nicht ins Komödienfach wechselt (was sie nicht kann), sondern ihrer Mutter in verbaler Schärfe in nichts nachsteht. Die beiden anderen verkrachten Töchter, Bettina Hoppe und Franziska Junge, wühlen sich durchs Leben, um mitunter etwas Licht am Horizont zu sehen. Licht: Das entsteht nur durch die im Hintergrund spielende Band, die populär-amerikanische Songs beisteuert und die düsteren, auf Video zu sehenden Highways und Wohnbetonflächen zu untermalen sucht. Während Hoppe zuweilen ihre Rolle todernst und mit abgestellter Mimik absolviert, chargiert Junge, um auch das boulevardesk Krachlederne zum Triumph zu verhelfen. Beim Anblick der Darstellung vom geistig zurückgebliebenen Little Charlie (Sascha Nathan) entsteht sogleich ein Gefühl von Empathie, man möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen. Er ist naiv, treudoof, aber ungemein herzlich, bedauerlicherweise werden solche Menschen von Parteien, egal ob sie sich sozial oder christlich nennen, ausrangiert und abgehängt, weil sie im human verbrämten kapitalistischen Sinne nicht funktionieren.
Fröhlich bunt, aber traurig: Constanze Becker und Corinna Kirchhoff
© Birgit Hupfeld
Massive Wortgefechte ufern aus
Die Inszenierung ist schon etwas bizarr. Eine Sektion spielt ernsthaftes, boshaft seriöses Theater, während die andere den Boulevard bedient. Immerhin sind auch die Nebenrollen genau ausgearbeitet und gut in Szene gesetzt. Die Österreicherin Katrin Hauptmann, als eine Art Dienstmädchen engagiert, scheinbar in stiller Demut arbeitend, zeigt ein angedeutetes ironisches inneres Schmunzeln, als habe sie alles durchschaut und mache das nur, als sei das nur ein kleines Intermezzo, das den Erfahrungsstapel erweitert. Diese Inszenierung ist ein Triumph der Frauen: Die Männer sind meistens nur duldsame Schwächlinge, jederzeit austauschbar. Holzschnittartig ist gar nichts, denn die Frauen entfalten wiederholt unparadigmatisch ihren abenteuerlichen Individualismus, der staatlich gewollte Grenzen überschreitet. Großartig die Wortgefechte zwischen Constance Becker und Corinna Kirchhoff, die ihre scharf geschmiedeten Messer über Gebühr ausfahren, ohne Ahnung des nicht empfindsamen, aber empfindlichen Seelenlebens. Gewiss, die Inszenierung gerät nach der Pause des dreieinhalbstündigen Unternehmens in Langamtigkeit und Zähigkeit, da in der Wiederholungsspur die tief eingeschlagenen Familienschmerzen nicht zum Wundenlecken veranlassen, sondern zum Wunden schlagen. Dies ist kein typisches amerikanisches Phänomen – es existiert weltweit. Trotz gelegentlicher Schwachstellen lässt sich sagen: Wenn das Theater immer so bezaubernd wäre!
Eine Familie
von Tracy Letts, deutsch von Anna Opel
Regie: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler, Musik und Songs: Jörg Gollasch, Video: Meika Dresenkamp, Dramaturgie: Michael Billenkamp.
Mit: Katrin Hauptmann, Bettina Hoppe, Wolfgang Michael, Corinna Kirchhoff, Constanze Becker, Carina Zichner, Franziska Junge, Josefin Platt, Martin Rentzsch, Sascha Nathan, Aljoscha Stadelmann, Till Weinheimer.
Berliner Ensemble, Kritik vom 27. Oktober 2017
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)