Zugegeben, es war wieder einmal einer dieser besonders spannenden Momente, wenn Du das Gefühl hast, dass sich euphorische Begeisterung aufbaut. Schon seit vielen Jahren schaue ich mir den Eurovision Song Contest, kurz ESC, nicht mehr an, weil er mich irgendwie nur noch langweilt. Am Samstagabend nun war es anders, denn ich wollte sehen, wie sich die deutschen Kandidaten von Elaiza auf der Bühne so präsentieren. Vielleicht auch deswegen, weil die Sängerin aus dem Saarland kommt. Ich finde, das Lied hat Ohrwurmcharakter, aber ob es Europa tauglich sein könnte, darüber habe ich mir weniger Gedanken gemacht.

Und plötzlich ist es da: Das Winner-Feeling
Conchita Wurst betritt die Bühne, die Augen gehen sofort mit, alles fasziniert - Eine wahrhaft göttliche Ausstrahlung in Verbindung mit dem Song, der direkt fesselt. "Drama, Baby, Drama" - Mehr geht nicht! Sofort sage ich: "Die Mann-Frau gewinnt". Irgendwie kann ich es auch gar nicht mehr abwarten, bis die Punktevergabe beginnt. Den Auftritt von Elaiza finde ich bei weitem nicht so gut, wie einige Performances, welche ich von der Band im Vorfeld gesehen habe. Irgendwie wirkt alles bieder, ein wenig zu sehr 80ties Retro orientiert, wenn ich mir so das Outfit der deutschen Leadsängerin von Elaiza ansehe. Die Stimme ist astrein, schön, aber irgendwie fehlt dem Song dann doch auf so einer großen Bühne das Begeisterungspotential. Mir wird schnell klar: Kein Vergleich zu Conchita Wurst, der Mann-Frau und ihrer wahnsinnigen Bühnenpräsenz.

Die Punktevergabe beginnt, zunächst liegt Ungarn vorne, Österreich kommt weiter hoch und triumphiert dann gewaltig. Noch bevor die letzten drei Länder ihr Voting abgeben, heißt es: "The winner of the ESC 2014 is: Austria, Conchita Wurst." Ich jubele mit, ich schreie "Yes!". Endlich mal wieder ein Understatement und ein Auftritt, der die Welt bewegt. Und genau das ist es doch, was Musik können soll - Anregen, bewegen, zum Nachdenken veranlassen oder einfach nur, um Momente zu genießen. Momente, die einen kurz mal wegtragen, weg von allem Alltagskram und die gleichzeitig aber auch auf ihre Weise eine Botschaft transportieren - Sei es nun durch den Künstler/die Künstlerin in ihrer Erscheinung, die Darbietung von Musik oder die Melodie bzw. den Text. Und wenn es dann noch ein Song für Europa sein soll, das im Moment ohnehin mehr als zerrissen ist, dann kann es doch nur "Rise like a Phoenix" sein.

Die magische Anziehungskraft der Mann-Frau
Ja, ich nenne Conchita Wurst einfach nur die Mann-Frau, weil ich sie oder ihn weder da noch da einordnen will. Über die biographischen Hintergründe steht mittlerweile alles im Netz und noch mehr wird folgen. Selbst die Deutschen Wirtschaftsnachrichten haben dem Phönix aus der Asche einen ausführlichen Bericht gewidmet, zwischen Börsendaten und Russland-News. Beeindruckend ist, mit welch einfachen Mitteln ganz Europa Kopf stehen kann: Mann-Frau mit ungemein sympathischer, glamouröser, nahezu göttlicher und doch so menschlicher Ausstrahlung, einem Song, der ebenso prachtvoll und bewegend daherkommt und einer Interpretin, die ihn mit absoluter Leidenschaft performt und vor allem: Die förmlich zum Hinsehen zwingt, aufgrund ihrer Aufmachung. Bevor die Gewinnerin ihr Lied noch einmal zum Besten gibt, kommt die Aufforderung zu Frieden in der Welt und im Hinterkopf schwirren gleich die Erinnerungen an John Lennon & Co und den vielseitigen Friedensaktivitäten auf der Welt. Dann schwingt Conchita Wurst ganz männlich die Siegertrophäe in die Höhe, ein Moment, der wirklich auch der Höhepunkt eines Kino-Welterfolges hätte sein können. Emotionen pur, die da den Körper durchströmen und genau das ist es doch, was man in einer abgeklärten Welt auch ab und an braucht.

Botschaften senden oder einfach nur sein, wie man ist?
Wer nun hinterfragt, was Conchita Wurst den Sieg beim ESC wohl genau beschert hat, der wird nicht nur die eine Antwort finden, sondern gleich eine ganze Liste. Da wären z.B. der Mut, sich so wie man sich fühlt, auf die Bühne zu stellen, allen Spöttern und Vorurteilsliebenden zum Trotz, die Extravaganz der Provokation, die perfekte Inszenierung eines theatralischen Spektrums, das Statement für ein tolerantes Europa und eine tolerante Welt oder einfach nur die unbeschreibliche Faszination. Die Frage, die man sich allerdings stellen sollte, ist, ob Conchita Wurst auch mit einem anderen Song in dieser Konstellation gewonnen hätte. Das ist nun im Nachhinein nicht mehr zu klären. Eine weitere Frage ist auch, ob sich die Menschen nach ESC weiterhin für die Künstlerin Conchita Wurst und andere ihrer Songs interessieren werden oder, ob Conchita Wurst mehr zu einem Kunst- und Fanobjekt oder einem neuen Europa-Symbol stilisiert wird. Ihr Bart ist immerhin in aller Munde und um aller Munde herum und auch der Nachname gibt genügend Anlass für tausend Schlagzeilen.

Dennoch werden Frauen auch weiterhin keinen Bart tragen, höchstens als Party-Gag. Aber Conchita Wurst hat es geschafft, die Aufmerksamkeit auf sich, auf ein brisantes Thema und auf den Mut zur Selbstdarstellung zu lenken. Und das ist sehr selten, selbst im ultramobilen, totalvernetzten Zeitalter, denn die breite Masse wird weiterhin von Mitläuferdenken und absoluter Depersonikfikation bestimmt: Das machen, was alle machen, das kaufen, was alle kaufen, das denken, was alle denken. Genau hier hat Conchita in das lethargische Wespennest gestochen und zumindest für einen Abend wieder einmal Enthusiasmus in die verstaubten Schubladen gebracht. Hoffen wir, dass sich das Diskussionspotential nicht nur auf die Jokes mit Bärten in Frauengesichtern und die Erfindung von neuen Kaiserinnen für Österreich beschränkt, sondern vielleicht wirklich mal zum Nachdenken anregt.

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