Das Anliegen der Kirchenpädagogik

Kirchenpädagogik will Kirchenräume für Menschen öffnen und den Sinngehalt christlicher Kirchen mit Kopf, Herz und Hand, also ganzheitlich, erschließen und vermitteln, um so Inhalte der christlichen Religion bekannt zu machen, aber auch um Zugänge zu oftmals verschütteten religiösen Erfahrungen und Sehnsüchten der Beteiligten und damit zu spirituellen Dimensionen anzubahnen. Bei Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – dem christlichen Glauben fernstehen, kommt dies einer christlichen Alphabetisierung gleich. Man könnte auch sagen, dass der Kirchenpädagoge als Dolmetscher zwischen dem Kirchenraum und den Kirchenbesuchern fungiert, dass er also einen Dialog zwischen dem Kirchenraum und den Kirchenbesuchern initiiert und diesen als eine Art Vermittler begleitet, damit letztere die Botschaft des Kirchenraums überhaupt verstehen und in ihre eigene Lebenswelt übertragen können. Insgesamt handelt es sich also bei der Kirchenpädagogik um ein Projekt auf der Schwelle zwischen Kirche und Gesellschaft. Der Kirchenraum mit seiner je unterschiedlichen sakralen Ausstrahlung, seiner Ausstattung, seiner Architektur und Geschichte ist dabei gleichzeitig Arbeitsort, Gegenstand und Medium der Kirchenpädagogik.

Das Lernprinzip der Kirchenpädagogik

Die Kirchenpädagogik weist starke Parallelen auf zur  konstruktivistischen Lerntheorie und dem von dieser konzipierten Lern-Lehr-Modell, bei dem die Frage nach der Anschlussfähigkeit der Lerninhalte insbesondere bei Erwachsenen für das didaktische Handeln als zentral angesehen wird. Demzufolge nehmen Menschen nur solche Inhalte wahr, die an ihr Alltagswissen, an ihre eigenen biografischen Erfahrungen, an ihre Lebensgeschichte anzudocken vermögen.

Entsprechend geht es der Kirchenpädagogik 1. ausdrücklich darum, an die Vorerfahrungen der Teilnehmenden – deren "fremden Blick" – anzuknüpfen und diese für den Lernprozess im Kirchenraum fruchtbar zu machen. Dieser soll 2. behutsam moderiert und inszeniert werden (Ermöglichungsdidaktik). Es soll 3. eine Lernatmosphäre geschaffen werden, die Kommunikation über unterschiedliche Perspektiven und Deutungen zulässt.

Ziel ist es, interaktive und ganzheitliche Lernprozesse in Gang zu setzen, in denen die Menschen im Kirchenraum eigene Entdeckungen machen und darüber mit anderen kommunizieren können. Damit aber werden die Lernenden zum Subjekt kirchenpädagogischer Veranstaltungen und zu Mitkonstrukteuren der erlebten Begegnung mit der geistlichen Welt.

 

Die anthropologische Grundlage der Kirchenpädagogik

Grundlage der Kirchenpädagogik und der durch sie initiierten Lernprozesse sind Erkenntnisse der philosophisch-theologischen Anthropologie, denen zufolge die Religiosität, die Sehnsucht nach dem Heiligen, eine Grunddimension des Menschseins, also eine anthropologische Konstante, darstellt. Es gibt für den Menschen mit anderen Worten keine vollkommen profane Existenz, er kann ohne einen heiligen Raum nicht leben. Und zwar erhält der Mensch Kenntnis vom Heiligen, weil dieses sich manifestiert, also sich – im Profanen - als etwas vom Profanen völlig Verschiedenes zeigt. Solche Erscheinungsformen des Heiligen – man spricht hier von "Hierophanien" (hieros=heilig, planein=sich zeigen) - gibt es in der Geschichte aller Religionen, angefangen bei den primitivsten bis hin zu den hoch entwickelten Religionen.

An diese scheinbar angeborene Neigung des Menschen, sich von etwas, das als "heilig" empfunden wird, berühren zu lassen, knüpft die Kirchenpädagogik an und versucht, auf das im Menschen ausgelöste subjektiv empfundene Gefühl von Heiligkeit einzugehen, es anzusprechen, weiterzuführen und mit der christlichen Botschaft zu verbinden. Man kann hier vom leitenden Kriterium der Kirchenpädagogik sprechen. Alle Typen und Varianten von Kirchenführungen sollen sich also daran orientieren. Aber vor allem bei mystagogischen und spirituellen Kirchenführungen kann der Kirchenraum zum Ort intensiver Heiligkeitsempfindungen bei den Teilnehmenden werden.

Die mystagogische Kirchenführung

In der Antike wurde der Einführungsprozess in die Geheimnisse einer Religion als Mystagogie bezeichnet. Daraus entwickelte sich die "liturgische Mystagogie" des frühen Christentums. Eine zeitgenössische Form der Mystagogie ist die von dem Theologen Karl Rahner konzipierte "transzendentale Mystagogie". Hier geht es darum, Menschen zu helfen, in den Spuren ihres Lebens Zeichen der Nähe Gottes zu entschlüsseln. Demnach kann man in existentiellen Erlebnissen erspüren, dass alles Lebendige in einem guten Geheimnis gründet, explizit christlich ausgedrückt: im Wirken des Geistes Gottes.

Dementsprechend geschieht mystagogisches Lernen auf Wegen, die Menschen zunächst Räume und Zeiten eröffnen, um mit ihren eigenen Grunderfahrungen, mit ihren Sehnsüchten und zugleich mit der Wirklichkeit Gottes in Berührung zu kommen sowie Erfahrungen damit zu sammeln. Es soll also durch mystagogisches Lernen Menschen die Möglichkeit eröffnet werden, sich der Gottesfrage zu stellen, ihre eigene Beziehung zu Gott zu erkennen.

Konstitutiv für mystagogisches Lernen sind das Erleben und Wahrnehmen einer anderen Wirklichkeit und die Beschäftigung mit elementaren Fragestellungen, bei denen verschiedene Antworten möglich sind, deren Relevanz für ihr eigenes Leben die Teilnehmenden prüfen können. Das heißt: Eine mystagogische Kirchenführung will für Transzendenzerfahrungen sensibilisieren und den Teilnehmenden Möglichkeiten eröffnen, sich grundlegenden Fragen zu stellen wie "Gibt es überhaupt einen Gott?" "Wozu ist die Welt da?" "Wozu bin ich selbst auf der Welt?" Wesentlich bei mystagogischen Kirchenführungen ist also die Möglichkeit für die Teilnehmenden, religiöse Erfahrungen machen zu können beziehungsweise die Gelegenheit zu erhalten, sich in ihrer Gottesbeziehung wahrzunehmen und dies auch deuten und ausdrücken zu können. Dazu ist es notwendig, die Darbietung und Wahrnehmung im Kirchenraum zu verlangsamen, also den Teilnehmenden viel Zeit zu geben, bei den Gegenständen und den je eigenen Gedanken zu verweilen und still zu werden.

Die spirituelle Kirchenführung

Die spirituelle Kirchenführung ist ebenso wie die mystagogische in besonderer Weise geeignet für Menschen, denen die Kirche unbekannt geworden ist, weil sie ohne Gott und Kirche aufgewachsen sind, und die dennoch offen sind für eigene spirituelle Erfahrungen und Antworten auf existentielle Fragen suchen. Eine spirituelle Kirchenführung für Kirchenferne muss deshalb eine doppelte oder sogar dreifache Aufgabe erfüllen, nämlich den Suchenden 1. Raum geben für ihre tiefen Fragen, sie 2. einladen und heranführen an die unbekannt gewordene Religion als Angebot, eine Deutung ihres Lebens im Blick des Glaubens zu wagen, und ihnen wo möglich sogar 3. Wege aufzeigen zum Eigentlichen, zum Heiligen.

Entsprechend ist auch eine spirituelle Kirchenführung bestimmt durch Reduktion, d.h., Konzentration auf das, was wirklich wichtig ist, und Verlangsamung, d.h., ein Zur-Ruhe-Kommen, das achtsames Wahrnehmen ermöglicht. Deshalb ist es auch wichtig, das Ankommen im Kirchenraum in besonderer Weise zu gestalten, nämlich als bewussten Übergang vom Profanen zum Sakralen. Und nach Überschreiten der Schwelle zum Innenraum folgt die Phase des Erkundens, in der es sinnvoll ist, den Raum zunächst als Ganzes zu betrachten und sich dann mit einem oder mehreren Details zu beschäftigen. Ferner können in dieser Phase gemeinschaftsbezogene Erkundungen durch individuelle Aufgaben und Entdeckungen ergänzt werden.Auf diese Erkundungsphase, die der Heranführung an den Kirchenraum mit seinen Bildern und Geschichten dient, folgt die Vertiefungsphase, die Raum gibt für die eigenen Fragen, die die Teilnehmenden mitgebracht haben, für ihre Eindrücke, Gedanken und Ideen. Den Abschluss bildet die Ablösephase. Hier bietet es sich an, etwas zu schenken und zu segnen. Die Teilnehmenden sollen also etwas von der Führung mitnehmen. Man könnte auch sagen: Die Begegnung mit dem Heiligen soll bei den Teilnehmenden bleibende Spuren hinterlassen.

Eine spirituelle Kirchenführung will also bei den Menschen die Sehnsucht wecken, sich mit den Schätzen des christlichen Glaubens auseinanderzusetzen. Und zwar geschieht hier eine schrittweise Annäherung an die Religion durch mitvollziehende Teilnahme an spirituellen Ausdrucksformen des religiösen Lebens. Spirituelle Kirchenführungen führen mit anderen Worten an die Schwelle eigenen religiösen Handelns und ermöglichen und ermutigen damit, weitere Schritte auf dem Weg zu Gott hin zu wagen. Insofern könnte eine spirituelle Kirchenführung auch einer mystagogischen vorausgehen und diese sozusagen vorbereiten.

Die biografische Kirchenführung

Ein weiterer interessanter kirchenpädagogischer Ansatz ist die biografische Kirchenführung. Und zwar nimmt die biografieorientierte Kirchenführung in vertiefter Weise die Subjektorientierung auf, die die Religionspädagogik als Ganzes kennzeichnet. Resultat ist die Verknüpfung persönlicher Lebensgeschichten mit dem Kirchenraum. Das heißt: Kirchenführungen erschließen den Kirchenraum dann biografieorientiert, wenn sie beispielsweise die Teilnehmenden Erinnerungsorte auswählen und aufsuchen lassen und sie zur Verbalisierung der damit verbundenen Geschichten, Gedanken und Emotionen anleiten. Es geht also immer um die Anknüpfung an die Lebensgeschichte der Kirchenführungsteilnehmer.

Hintergrund ist, dass der Kirchenraum Abbild jeder Biografie ist. Das heißt: Der Kirchenraum bildet in seiner Grundstruktur, bestehend aus Taufbecken, Altar, Kanzel und Kreuz, den persönlichen Lebensweg eines jeden Menschen ab. Er hält also für alle biografischen Situationen einen Ort bereit, der persönliche Erinnerungen weckt und zu dem man eine Beziehung aufbauen kann.

Die historisch-genetische Kirchenführung

Das bisherige Standardmodell bei Kirchenführungen ist die sogenannte historisch-genetische Kirchenführung. Diese ist einseitig auf die Beredung und Belehrung der Teilnehmenden durch den Kirchenführer ausgerichtet, dient also in erster Linie der Vermittlung baugeschichtlicher, kunsthistorischer und theologischer Fakten. Aus Sicht der Kirchenpädagogik hat dieser Führungstypus zwei gravierende Schwächen. Zum einen missachtet er die – von der Kirchenpädagogik beherzigten - Erkenntnisse der konstruktivistischen Lerntheorie bezüglich des Verlaufs von Lernprozessen bei Erwachsenen, was dazu führt, dass das vermittelte Wissen schnell vergessen wird. Zum anderen wird das, was den Kirchenraum zu einem heiligen Ort macht, kaum gewürdigt.

Die historisch-genetische Kirchenführung ist vor allem im Kontext von Freizeit und Tourismus angesiedelt und entspricht scheinbar den Wünschen der Teilnehmenden. Dabei muss jedoch bedacht werden, dass diese Wünsche und Erwartungen über Jahrzehnte geprägt worden sind und nicht von heute auf morgen verändert werden können. Die starren Fronten zwischen Kirchenpädagogik und historisch-genetischer Kirchenführung beginnen jedoch aufzubrechen, weil immer mehr Kirchenführer dazu übergehen, in die historisch-genetische Kirchenführung Elemente der Kirchenpädagogik einzubauen. Von besonderer Bedeutung sind hier das Element der Verlangsamung und die Ergänzung des Monologs durch Phasen des Dialogs.

Fazit

Die vielleicht wichtigste Aufgabe der Kirchenpädagogik ist es, Menschen in die besondere Atmosphäre des Schweigens, Hörens und inneren Lauschens zu führen, die Kirchenräume auszeichnet, sie mit dieser Kraft der Stille bekannt zu machen. Denn hier entfaltet sich die Spiritualität von Kirchenräumen, in der die Menschen den Zugang zu einer anderen Wirklichkeit finden. Man könnte auch sagen: Als heilige Orte ermöglichen Kirchen Transzendenzerfahrungen, die Begegnung des Menschen mit Gott, und die Kirchenpädagogik hat die Aufgabe, die Menschen dabei zu begleiten.

 

Quellennachweis:

Kirchenpädagogik, Zeitschrift des Bundesverbandes Kirchenpädagogik e.V./Ausgabe 2010

Kirchenpädagogik, Zeitschrift des Bundesverbandes Kirchenpädagogik e.V./Ausgabe 2011

Kirchenpädagogik, Zeitschrift des Bundesverbandes Kirchenpädagogik e.V./Ausgabe 2012

Bildnachweis:

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Autor seit 11 Jahren
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