Das Fahrende Volk: Eine kurze Geschichte der Vaganten
Vor 200 Jahren waren Deutschlands Straßen von Vaganten bevölkert: Menschen, die ihren Wohnsitz verloren oder einen solchen noch gar nie besessen hatten.Ursachen der Nichtsesshaftigkeit: Bevölkerungswachstum und Teuerungen
Die Wurzeln dieser massenhaften Entwurzelung reichen bis zum Beginn der Neuzeit zurück: Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts stieg die Bevölkerung in Deutschland fast kontinuierlich an. Dies führte zu einer langfristigen Nahrungsverknappung und einem Überangebot an Arbeitskräften auf dem Land, zu Teuerungen und Hungerkrisen. Infolgedessen wuchs die Zahl der Kleinbauern und Tagelöhner, deren sesshafte Existenz auf wackligen Beinen stand und nicht selten ein jähes Ende fand. Andere brachen auf, sich in der Ferne eine neue Existenz aufzubauen – und landeten in der Nichtsesshaftigkeit. Sie alle wurden Teil der wachsenden Gruppe der Fahrenden. Deren Kern bestand aus Familien, die bereits seit Generationen in Nichtsesshaftigkeit lebten. Ihre Mitglieder übten die typischen Berufe der Vaganten aus: Sie waren Korbflechter, Pfannen- und Kesselflicker, Hausierer und Scherenschleifer. Das kärgliche Einkommen zwang sie oftmals, ihr Überleben durch Bettel und kleinere Diebstähle zu sichern.
Das Fahrende Volk: Zigeuner und Juden
Ein großer Teil dieser Familien entstammte den gesellschaftlich stigmatisierten Gruppen der Zigeuner und Juden. Die Präsenz der ursprünglich aus Südeuropa kommenden Zigeuner im Reich ist seit 1417 urkundlich belegt. Bereits 1498 wurde ihre Vertreibung beschlossen, von 1500 an galten sie als vogelfrei und noch im 18. Jahrhundert wurden Vertreibungspatente gegen diese Volksgruppe ausgestellt. Die Heimat der Zigeuner war somit die Landstraße.
Dieses Schicksal teilten viele Juden, die Ende des 14. Jahrhunderts aus den Städten vertrieben worden waren und vom Betteln lebten. Ihre Zahl erhöhte sich im 15. Jahrhundert durch Vertreibungen in Spanien und 1648 durch Pogrome in Polen. Die Folge war eine Massenarmut der Juden im Deutschland des späten 17. und 18. Jahrhunderts: "Betteljuden" besaßen im Gegensatz zu den "Schutzjuden" keinen Schutz durch die Obrigkeiten und kein Wohnrecht.
Landsknechte, Bettler und die zunehmende Diskriminierung der Vaganten
Hinzu kamen die in Friedenszeiten umherziehenden Landsknechte, die bei Bauern um kleinere Arbeiten anhielten oder um Almosen baten, sowie Bettler generell. Letztere wurden häufig der Städte verwiesen. Während im hohen Mittelalter Almosen noch als Zeichen christlicher Barmherzigkeit betrachtet wurden, ging man im 14. Jahrhundert dazu über, Bettelordnungen herausgegeben. Diese waren nur zum Teil eine Reaktion auf die Zunahme von Bettelbetrug: In "Aufklärungsbüchern" wie dem 1510 erschienenen "Liber Vagatorum" werden verschiedene Formen betrügerischen Bettelns wie das Vortäuschen von Krankheiten und gemeinnütziger Sammlungen aufgeführt. Es war jedoch die neue reformatorische Arbeitsethik, die maßgeblich dazu führte, Bettler und allgemein Vaganten zunehmend sozial auszugrenzen, zu diskriminieren und zu kriminalisieren.
Landesverweisung, Infamie und "unehrliche" Berufe
Die bei minderschweren Verbrechen häufig praktizierte Landesverweisung wirkte sich ebenfalls begünstigend auf das Wachstum der vagierenden Schichten aus. Bisher sesshafte Menschen verloren durch die Überweisung in ein benachbartes Territorium ihren Wohnsitz. Zusätzliche infamierende Strafen wie Brandmarkung erschwerten eine Rückkehr in die Gesellschaft.
Angehörige der von vornherein sozial stigmatisierten "unehrlichen" Berufe – beispielsweise Henker, Totengräber, Abdecker und Prostituierte – wurden allgemein gemieden und unterlagen zahlreichen Ressentiments. Viele zogen deshalb von Ort zu Ort. Zu diesem bunten Potpourri gesellten sich Schauspieler, Musikanten, Müllerknechte, Handwerksgesellen, Exilanten, Eremiten, Scholaren, Studenten, Kleriker, Schüler sowie Saisonarbeiter. Nicht alle dieser Fahrenden zogen dauerhaft umher, umgekehrt konnte ihre Zahl jedoch in Krisenzeiten noch zunehmen.
Das Fahrende Volk und die Obrigkeit - Gauner, Rotwelsch und Mandate
Da Betteln, Hausieren und Vagieren zunehmend mit Verboten belegt wurden, kam es durch Fahrende immer wieder zu kleinkriminellen Vergehen. Manche Vaganten wurden aber auch zu professionellen Verbrechern: Diese sogenannten Jauner oder Gauner entwickelten das Rotwelsch - einen geheimsprachlichen Jargon, in den Worte aus dem Hebräischen, dem Romani, Französischen et cetera einflossen und der noch heute durch Wörter wie "Kohldampf"" und "Bulle" in unserer Sprache lebendig ist. Sie nannten sich "Kochemer" (vertraute Leute) oder die "kocheme Gesellschaft" und bildeten bis ins 18. Jahrhundert das hinter den Räuberbanden stehende Netzwerk. Die Obrigkeit reagierte auf das Vagantentum mit einer steigenden Flut von Mandaten und Erlassen, in denen die verschiedenen Gruppen pauschal verurteilt wurden. So wurde in der Frühen Neuzeit begrifflich immer weniger zwischen den einzelnen Fahrenden unterschieden und der Begriff "Jauner" oder "Gauner" schließlich als Synonym für alle Fahrenden verwendet. Das "umschweifende Gesind" wurde allgemein als gefährlich und kriminell abgestempelt.
Geschichte der Vaganten: Der Rückgang des Fahrenden Volkes
Die Fahrenden galten lange Zeit generell als Bedrohung, und indem man sie ausgrenzte, verfolgte und Exempel statuierte, hoffte man dem Räuberwesen beizukommen. Gleichzeitig wurde der Volkszorn getreu dem Motto "nach unten treten" blitzableitergleich von den Überprivilegierten auf die Rechtlosen gelenkt. Doch vor allem Integrationsmaßnahmen und Heeresreformen sowie eine Verbesserung der sozialen Situation der Zigeuner und der sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts emanzipierenden Juden ließen in den 1830er Jahren die Zahl der Vaganten stark zurückgehen. Das Fahrende Volk löste sich auf und wurde im Zuge des Pauperisierungsprozesses vor die Werktore der Industrialisierung gespült.
Literatur zum Thema:
Danker, Uwe: Die Geschichte der Räuber und Gauner. Düsseldorf/Zürich 2001.
Sarkowicz, Hans: Die Gesellschaft der Außenseiter, in: Boehncke, Heiner/Sarkowicz, Hans (Hrsg.): Die großen Räuber. Frankfurt am Main, 1993, S. 23-33.
Sedlmeyr, Thomas: Erzmalefikant und edler Räuber. Die Räuberdarstellung in der deutschen Literatur um 1800. Saarbrücken 2008.
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