Der Vorstoß und sein Anlass

Nach der Festnahme des norwegischen Massenmörders Anders Breivik fanden die Ermittler im Internet seine irre Tatbegründung. Er hatte sie wenige Stunden vor den Anschlägen ins Netz gestellt. Norwegen steht traditionell für eine sehr freie, offene Gesellschaft, die vieles erlaubt, was hierzulande längst verboten ist. Und so soll es auch bleiben. König Harald und Ministerpräsident Stoltenberg haben sich an ihre Landsleute gewandt und sie beschworen, sich trotz des Schocks nicht den Glauben an eine freiheitliche Gesellschaft nehmen zu lassen. Und es scheint, dass diese Botschaft bei den Norwegern auch angekommen ist.

Ganz anders die Reaktionen in Deutschland. Reflexartig meldeten sich die bekannten Scharfmacher zu Wort und wärmten ihre ständig wiederkehrenden Forderungen nach einer Vorratsdatenspeicherung neu auf. Die Überwachung des Internetverkehrs und von Telefongesprächen "im Vorfeld solcher Taten" müsse möglich sein. Hilfreich wäre auch die Anlegung einer Datei, in der alle psychisch auffälligen Personen erfasst würden. Der Bundesinnenminister hat nun am Montag einen Vorstoß unternommen und eine geschärfte polizeiliche Kontrolle des Internets ins Gespräch gebracht. So sollte etwa das anonyme Bloggen unterbunden werden. Kritiker sehen darin einen Dammbruch. So könnten künftig alle User einer Registrierungspflicht unterliegen, in Blogs, Foren, Chats - bis hin zum Email-Versand. Das offene (anonyme) Internet wäre damit in Deutschland am Ende.

Massenmörder Breivik heizt eine alte Debatte wieder an
Anders Breivik

Anders Breivik

Vorstoß und Dementi: Innenminister Hans-Peter Friedrich
Hans-Peter Friedrich

Hans-Peter Friedrich

Vom Nutzen einer totalen Gedankenpolizei

Es gibt ja bereits Überwachung und Registrierungspflichten in Deutschland, etwa eine Impressumspflicht. Doch ist es sinnvoll, jetzt die Kontrolle total - das heißt: totalitär - auszuweiten? Ich hatte in einem anderen Beitrag die Einführung einer allgemeinen Pflicht-Gendatei befürwortet, um Sexualverbrechen aufklären zu können. Die lückenlose Überwachung und Zensur des Internet lehne ich aber kategorisch ab, weil ich darin keinerlei Nutzen, keinerlei Rechtfertigung sehe.

Die Bluttat von Norwegen wäre auch durch Internet-Kontrolle nicht zu verhindern gewesen. Der Netz-Auftritt Breiviks geschah nicht als vorherige Ankündigung, sondern als fast zeitgleicher Rechtfertigungsversuch seiner Tat. Ganz typisch: "Echte" Amokläufer und Attentäter nutzen den Überraschungseffekt, sie betreiben keine Propaganda. Die Aufnahme des Massenmörders  in eine Datei hätte auch nichts gebracht, denn Breivik war psychisch weniger auffällig als mancher Politiker. Ist eine Generalprävention (allgemeine Vorbeugung) von Anschlägen durch einen generellen Offenbarungszwang überhaupt vorstellbar? Wer um das Risiko einer sicheren Aufdeckung seiner Identität weiß, wird sich nicht aus der Deckung wagen, schon gar nicht, wenn er Böses im Schilde führt. Aber auch jeder Normalbürger, der seine Träume, Späße, Provokationen und Spötteleien ins Netz stellt, könnte künftig eingeschüchtert sen. Die Aufhebung des anonymen Schutzes würde letztlich das Denunziantentum fördern,  die Meinungsfreiheit untergraben. Darin liegt der Schaden, der den vermeintlichen Nutzen deutlich überwiegt: Die Gedankenpolizei kann, wenn sie Glück hat, im Einzelfall vielleicht einen Anschlag verhindern, der totale Überwachungsstaat jedoch verliert auf breiter Front das Vertrauen seiner Bürger.

Der Bush-Reflex nach den Anschlägen vor zehn Jahren hat Guantanamo möglich gemacht und dazu geführt, dass Tausende Unschuldige eingesperrt und gefoltert worden sind. Der Ausnahmezustand als rechtsfreier Raum, in dem sich staatliche Willkür ungehemmt entfalten kann.  Man muss den Anfängen wehren, wobei wir längst nicht mehr bei den Anfängen sind, sondern in beschleunigter Fahrt auf ein Ziel zusteuern, das die Totalüberwachung in Orwellscher Dimension beschreibt. Die Staatssicherheit der DDR führte über fast jeden Einwohner ein Dossier, sie wusste scheinbar alles, denn jeder ausgesprochene Gedanke wurde protokolliert. Am Ende hat es nichts genützt. Der Polizei- und Geheimdienststaat - ob demokratisch oder diktatorisch verfasst, spielt dabei keine Rolle - hat keinerlei Nutzen, dafür aber richtet er immensen Schaden an.

Ich bin kein technischer Experte, doch aus meiner laienhaften Sicht ist das WorldWideWeb ohnehin nicht effektiv zu kontrollieren, jedenfalls nicht innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen.

Die Alternativen

Stehen wir also Anschlägen und Amokläufen hilflos gegenüber, sollen wir sie fatalistisch hinnehmen als eine Art höhere Gewalt, die nicht beherrschbar ist?

Ich denke, es gibt genug Mittel und Möglichkeiten, solchen Bluttaten wirksam zu begegnen. Es beginnt damit, dass Attentäter wie Breivik offenbar problemlos an Sprengstoff in Unmengen, an Waffen und Munition gelangen können. Das ist in den USA sogar gesetzlich verbrieftes Recht. Auch der private Waffenhandel ist ein lukratives Geschäft, eine der wenigen Boombranchen, mit dem sich nach satte Gewinne machen lassen. Auch der Staat verdient daran. Der freie Zugang von Mördern und Terroristen zu Waffen, Giften und Zerstörungsmaterial ist das eigentliche Problem, nicht etwa die Bombenbastel-Anleitung im Internet. Der Staat könnte den florierenden Waffenumlauf unterbinden. Auch in Deutschland bestünde Nachbesserungsbedarf: Es muss nicht sein, dass Sportschützen und Jäger ihre Waffen zu Hause aufbewahren, wo ihre Kinder damit herumspielen können. Es ist auch nicht akzeptabel, dass unter den allgegenwärtigen Einsparzwängen weiter an Ausbildung und Ausrüstung und an der Personalstärke der Polizei herumgestrichen wird. Sicherheit darf nicht weiter privatisiert werden, sie ist eine öffentliche (staatliche) Aufgabe - allerdings im wirklichen Leben, nicht in der Ausforschung der Gedankenwelt, nicht durch Beschneidung der freien Meinungsäußerung, nicht durch Totalkontrolle des Internet.

Die Meinung der Experten: Uneinheitlich

Natürlich sollten die verantwortlichen Politiker um die Nutzlosigkeit ihrer eigenen Vorschläge wissen. Es ist in der Politik die Regel, dass zwischen den vorgeschobenen und den tatsächlichen Absichten ein Widerspruch klafft. Anders kann Politik letztlich auch nicht funktionieren.

Was sagen die Experten dazu? Es gibt in Deutschland zwei konkurrierende Polizeigewerkschaften, die in dieser Thematik sehr gegensätzliche Positionen vertreten. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bernhard Witthaut, hat die Einführung einer Datei auffälliger Personen befürwortet - eine sogenannte "Wahnsinnigen-Datei". Zwingende Anschlussfrage: Wer hat als "wahnsinnig" zu gelten? Wer hat die Definitionshoheit?  Es gibt ja schon eine Erfassung von Menschen, die gefährlich in Erscheinung getreten sind, was nach bisherigen Erfahrungen völlig ausreichend war. So hält denn auch die konkurrierende Deutsche Polizeigewerkschaft (DPG) die Anregung Witthauts für "hanebüchenen Unsinn". Die Experten sind überdies nach allen Erfahrungen mit der bereits zulässigen Telefon-Überwachung überaus skeptisch, dass eine weitere Ausdehnung der Überwachung etwas bringen kann.

Wenn es also in der Sache nicht hilft, stellt sich die Frage, weshalb das Thema ein politischer Dauerbrenner bleibt.

Fortsetzung folgt.

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