Das Märchen und seine Verbreitung

Im 18. Jahrhundert trat mit der Bezeichnung für eine zunehmend populäre Gattung eine positive Konnotation hinzu: In Frankreich erschien erstmals die aus dem Orient stammende Sammlung der "Märchen aus 1001 Nacht" in der Übersetzung von Antoine Galland, Feen- und Zaubermärchen fanden begeisterte Leser. Die Mode schwappte über auf die deutschen Lande. Dort schuf Herder eine theoretische Grundlage der sich herauskristallisierenden Märchenforschung und erhob deren Gegenstand verklärend zum ursprünglichen und unverfälschten Ausdruck des Volkes, zur "Volksdichtung". Im 19. Jahrhundert erlebte die Gattung im Zuge der Romantik einen weiteren Höhepunkt. Märchen wurden nun gesammelt – unter anderem von den Brüdern Grimm und Ludwig Bechstein – und fanden ihren Weg in die bürgerliche Wohnstube.

Unterscheidung von Kunstmärchen und Volksmärchen

Man unterscheidet heute zwischen Kunst- und Volksmärchen: Das klassische Volks- oder Ammenmärchen zeichnet sich primär durch einen klaren Aufbau und einfache Sprache, fiktiven Charakter und das in eine ort- und zeitlose Wirklichkeit integrierte phantastische Element des Wunderbaren, Zauberhaften aus. Letzteres hat es mit dem vor allem in der Romantik beliebten Kunstmärchen gemeinsam. Dieses ist jedoch strukturell und sprachlich häufig komplexer gestaltet und kann einem Autor zugeordnet werden. Dagegen stammt das Volksmärchen aus mündlicher Überlieferung.

Die Typen des Märchens

In der Märchenforschung wird auf ein ursprünglich von dem Finnen Antti Aarne entworfenes und 1910 veröffentlichtes Typensystem zurückgegriffen, das von Stith Thompson überarbeitet und erweitert wurde. Darin wird nach Motiven zwischen "Tiermärchen", "eigentlichen Märchen" und "Schwänken" unterschieden. Diese Typen sind noch einmal unterteilt – beispielsweise die Tiermärchen in "Tiere des Waldes" und "Haustiere" etc., die eigentlichen Märchen in die größte Untergruppe der wiederum unterteilten "Zaubermärchen", die "legendenartigen Märchen" und die "novellenartigen Märchen" sowie die "Märchen vom dummen Teufel oder Riesen". Das Volksmärchen "Hänsel und Gretel" fällt beispielsweise unter den Typus "Märchen mit übernatürlichem Gegner" der Zaubermärchen. Dieses Typensystem berücksichtigt inzwischen finnische, dänische, irische und deutsche Grimmmärchen sowie Märchen aus Indien und dem Nahen Osten.

Viele Märchen spielen ganz oder ...

Viele Märchen spielen ganz oder teilweise im Wald. Der geheimnisvolle, gefährliche und menschenleere Ort war als Sitz des Wunderbaren prädestiniert.

Die Abgrenzung von Märchen und Sage

Die Erzählgattungen der Sage, Legende, des Mythos und der Fabel beinhalten ebenfalls das Element des Wunderbaren und Übernatürlichen. Im Einzelfall ist die Unterscheidung zum Märchen nicht immer einfach, lässt sich jedoch anhand bestimmter Kriterien vornehmen: So transportiert eine Sage immer den Anspruch der Wahrheit. Zudem spielt die Handlung eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Geheimnisvollen, das in Gestalt von Geistern, Riesen, Zwergen und Hexen im Mittelpunkt von Sagen steht. Während also das Wunderbare im Märchen wie selbstverständlich neben oder in der Wirklichkeit existiert, hat es innerhalb der Sage einen hervorgehobenen Status – das Ungewöhnliche erscheint als vom profanen Alltag streng getrennt und hat somit den Charakter der Sensation. Darüber hinaus ist ein Märchen in einem unbestimmten Kontext angelegt, während die als realistisch empfundenen Sagen oft regional und zeitlich eingebettet sind.

Unterschiede zu Legende, Fabel und Mythos

Die Legende ähnelt stark der Sage, erklärt jedoch das Übernatürliche aus der Religion: Legenden erzählen vom Leben Heiliger und göttlichen Wundern. Im Mythos dagegen spielen Götter selbst die tragende Rolle. Im Gegensatz zu Märchen, Legende und Sage, die vom Diesseits auf das Jenseits blicken, wählt der Mythos die umgekehrte Perspektive und erklärt das Irdische aus dem Übernatürlichen heraus. Fabeln schließlich sind stark konstruierte Geschichten, die mittels sprechender Tiere, Pflanzen und Dinge das ihnen zugrunde liegende belehrende Element vermitteln und somit eine klare praktische Bedeutung haben.

Merkmale von Personen und Handlung im Märchen

Das Volksmärchen innerhalb Europas tendiert zu typischen Personen, Requisiten und Stil sowie zu einem bestimmten Ablauf der Handlung. Die Handlung eines Märchens wird von der zentralen Gestalt des männlichen oder weiblichen Helden getragen, die übrigen Figuren stehen als Helfer, Gegner oder Belohnung in Bezug zu dieser und bleiben schemenhaft. Das wichtigste Requisit ist jenes, das den Helden zur Erfüllung seiner Aufgabe befähigt. Als Belohnung dafür kann er statt oder zusätzlich zu einer (reichen, hübschen, geliebten) Person auch wertvolle oder zauberhafte Dinge erhalten. Dinge und Personen sind streng nach alltäglich und wunderbar sowie gut und böse unterschieden. Die Handlung folgt meist dem einfachen zweiteiligen Schema von Problem (Not, Mangel, Aufgabe etc.) und Lösung. Sie geht zügig voran und verzichtet auf detaillierte Beschreibungen, ein komplexeres Innenleben der Figuren oder Nebenstränge. Somit erscheinen Märchen als stark stilisierend, als vereinfachend und dadurch zugleich abstrakt deutlich.

 

Literatur zum Thema:

Lüthi, Max: Märchen. 10. Auflage. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2004.

Rölleke, Heinz: Die Märchen der Gebrüder Grimm. Eine Einführung. 4. Auflage. Reclam, Stuttgart 2012.

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