Zur Bedeutung der Barmherzigkeit im Koran

Grundlage der von Khorchide konzipierten Theologie eines barmherzigen Gottes ist der hohe Stellenwert, der der Barmherzigkeit im Koran zukommt. So beginnt die erste Sure des Korans mit dem Ausspruch "Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Allbarmherzigen". Bereits der erste Vers des Korans nennt also gleich doppelt die herausragende Eigenschaft des Gottes des Islam: seine Barmherzigkeit. Aber nicht nur die erste Sure des Korans beginnt mit diesem Ausspruch, sondern er steht vor jeder einzelnen der 114 Suren, außer vor Sure 9. Im Koran beginnen also 113 der 114 Suren mit der Anrufung des Allbarmherzigen und Allerbarmers. Die Barmherzigkeit ist folglich die im Koran am häufigsten genannte Eigenschaft Gottes.

Koran

Koran (Bild: fendt1/pixabay.com)

Zwei konträre Gottesbilder

Zum Ausdruck kommt die Barmherzigkeit Gottes in seiner Schöpferrolle, die auch seine Tätigkeit als Wohltäter, als gütiger Versorger, umfasst. Die Barmherzigkeit Gottes bedeutet folglich – so Khorchide - dass Gott bedingungslos schenkt und damit den Weg zur Selbstvervollkommnung des Menschen freimacht. Mit dieser Vorstellung von Gott wendet sich Khorchide gegen das Gottesbild, das viele Muslime verinnerlicht haben, nämlich das Bild von einem Gott, der verherrlicht werden will, der Anordnungen schickt und der kontrolliert, wer sich daran hält, der also Unterordnung einfordert und die "Gehorsamen" belohnt, die "Ungehorsamen" bestraft. Das ist seiner Meinung nach ein Verständnis von Gott, das dem eines archaischen Stammesvaters oder Diktators gleicht, dem man nicht widersprechen darf. Es handelt sich hier deshalb – so Khorchide – um ein verzerrtes Bild von Gott, aber auch um eine gestörte Beziehung zu ihm, die nur auf Angst beruht und die zu einer Glaubenspraxis führt, die sich im Befolgen von Regeln und in Ritualen erschöpft.

Für Khorchide ist der Islam demgegenüber eine Religion, die den Menschen nicht in ein enges Regel-Joch spannt, sondern ihn befreit, als vor und für Gott Verantwortlicher in dieser Welt zu leben. Der Kern des Islam ist deshalb Khorchide zufolge die dialogische Beziehung des Menschen zu einem barmherzigen Gott. Hinzu komme, dass die Barmherzigkeit Gottes, so wie sie im Koran beschrieben werde, auch Angehörige anderer Religionen, einschließt. Für Khorchide versteht der Koran konfessionelle Vielfalt und damit Religionsfreiheit als gottgewollt. Deshalb sind im Koran mit dem Begriff "Ungläubige" – so Khorchide – auch nicht die Angehörigen anderer Konfessionen gemeint, sondern diejenigen, die sich weigern, die Einladung Gottes zu Liebe und Barmherzigkeit anzunehmen. Das heißt: Für Khorchide geht es im Koran einzig und allein um die Annahme von Gottes Liebe und Barmherzigkeit und deren Verwirklichung im Handeln.

Die Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke

Die Verzerrung des Gottesbildes im Islam mit dem Resultat der Vorstellung eines repressiven Gottes dient für Khorchide vor allem der Durchsetzung und Wahrung von Machtinteressen. Das heißt: Viele Machthaber der islamischen Reiche hätten sich den Titel "Schatten Gottes auf Erden" verliehen und damit klar gemacht: Wer dem Herrscher widerspricht, widerspricht Gott. Sie ließen also das Bild eines Gottes konstruieren, dem Gehorsam über alles geht, damit das Volk gefügig bleibt. Jede Opposition werde nicht nur als weltliche Opposition, sondern als Opposition hingestellt, die sich gegen Gott richtet. Es wird hier folglich – so Khorchide - die Unterdrückung der Opposition als gottgefällig ausgegeben und damit versucht, Machtansprüche mit Hilfe von Religion zu legitimieren. Nach seiner Definition kennzeichnet dies die "Ungläubigen".

Khorchide verweist in diesem Zusammenhang explizit auf den Salafismus, also eine fundamentalistische Strömung innerhalb des sunnitischen Islam, die wegen ihrer Radikalität und Rückwärtsgewandtheit den Nährboden bildet für islamistischen Extremismus bis hin zu Terrorismus. Salafisten haben – so Khorchide - ein grundsätzliches Problem mit dem Bild eines liebenden und barmherzigen Gottes. Denn so ein Gott lasse sich nicht für machtpolitische Kriegsansagen gegen alles, was nicht die Überschrift "Salafismus" trägt, instrumentalisieren. Deshalb würden die Salafisten auch von dikatorischen Staaten wie Saudi-Arabien stark unterstützt, und ihre Gelehrten wären diesen Staaten ihrerseits behilflich bei der Instrumentalisierung der Religion als Mittel zur Zähmung der "Untertanen", um diese gefügig zu halten. Die Anfälligkeit junger Muslime für den Salafismus – gerade auch in Deutschland - erklärt Khorchide damit, dass diese Jugendlichen sich heimatlos, an den Rand gedrängt, fühlen, weil sie kein "Ihr gehört dazu" hören, sondern ein "Wir Deutsche – ihr Muslime". Bei den Salafisten würden sie Bestätigung finden und damit eine Identität, die auf Abgrenzung beruht.

Koran

Koran (Bild: pstiegele/pixabay.com)

Historisch-kritische Koranexegese bzw. humanistische Koranhermeneutik

Die Instrumentalisierung des Korans, des darin transportierten Gottesbildes und des Islams generell für politische Interessen beruht Khorchide zufolge auf einer verfehlten, unzulässigen Lesart des Korans. Das heißt: Der Missbrauch bis hin zur Rechtfertigung von Gräueltaten unter Verweis auf angebliche Gebote im Koran wird seiner Meinung nach dadurch möglich, dass einzelne koranische Verse aus ihrem textlichen und historischen Kontext herausgerissen werden und dass generell die Gebote des Korans - der ja ein Buch aus dem siebenten Jahrhundert ist - wörtlich ins heutige Leben übertragen werden, der Koran also wörtlich ausgelegt wird.

Für Khorchide gibt es mit anderen Worten im Koran viele Bilder und Metaphern, die etwas sagen wollen, aber es gehe bei der Interpretation des Korans nicht um diese Bilder und Metaphern an sich, sondern um den Inhalt, den sie transportieren wollen. Und auch in der heutigen Zeit gehe uns dieser Inhalt etwas an. Es müsse also gefragt werden: Wie sieht der historische Kontext aus, in dem Gott den Koran verkündet hat? Und daraus folge dann im nächsten Schritt: Was will Gott uns heute damit sagen?

Wichtigste Voraussetzung der von Khorchide favorisierten – menschenfreundlichen - Lesart des Korans ist die Unterscheidung zwischen den in Mekka und den in Medina entstandenen Suren. Es muss mit anderen Worten unterschieden werden zwischen der Verkündung grundlegender Prinzipien durch den Propheten Mohammed als Gesandter Gottes in Mekka und der konkreten Umsetzung dieser Prinzipien durch den Propheten Mohammed als Staatsoberhaupt in Medina und damit zwischen den unwandelbaren theologischen und den zeitlich bedingten juristischen Aussagen im Koran. Letztere bilden die Grundlage der Scharia, die im Wesentlichen – so Khorchide – ein von Menschen erdachtes Konstrukt sei.

Khorchide sieht die wichtigste Aufgabe der islamischen Theologie also darin, die zeitlos gültigen Aussagen im Koran von den zeitlich gebundenen zu trennen, ihre Intention herauszuarbeiten und sie in für heute gültige Aussagen zu transportieren. Man kann auch sagen: Mit seiner Lesart des Korans versteht Khorchide den Islam nicht als Gesetzesreligion, sondern als Quelle von Spiritualität und allgemeinen ethischen Prinzipien. Und zwar sind dies die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, Gerechtigkeit, die Freiheit und Gleichheit aller Menschen und die soziale Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt. Khorchide will damit den Islam und den Koran von Äußerlichkeiten befreien und sie auf ihren spirituellen Kern zurückführen.. Richtig betrachtet ist der Koran für Khorchide ein Liebesbrief Gottes an die Menschen.

Die Grundlagen des "aufgeklärten Islam"

Eine wesentliche Grundlage des von Khorchide konzipierten modernen und aufgeklärten Islam sind die Schriften der großen sufistisch-mystischen Denker im Hochislam (kulturelle Blütezeit der islamischen Kultur vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, auch "Goldenes Zeitalter" des Islam genannt). Hier wurde der Begriff der "Gottesliebe” entwickelt und auf das Zusammenwirken der göttlichen und der menschlichen Person bezogen. Der Mensch wurde also aufgewertet und quasi zu einem "Partner Gottes" erhoben. Damit verbunden war die Vorstellung, dass Allah die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat, dass also jeder Mensch einen kleinen Hauch Göttlichkeit in sich trägt.

Hinzu kamen Versuche, den Islam durch das Übernehmen der hellenistischen Philosophie – besonders Plato und Aristoteles – zu reformieren und die Vernunft als oberste Instanz einzusetzen. Gleichzeitig wurde die Gleichwertigkeit aller Religionen postuliert. – Leider wurde die Verbreitung des Rationalismus im Hochislam von der Ulama, also den islamischen Schriftgelehrten, verhindert. - Was die zeitgenössische Theologie betrifft, so stützt sich Khorchide auf eine Reformströmung im Islam, die Mitte der 1990er Jahre an der Universität von Ankara entstand. Diese hat der Koranhermeneutik die Aufgabe zugewiesen, die ethischen Prinzipien zu entdecken, die hinter der Geschichtlichkeit des koranischen Wortes verborgen sind, und sie für die Gegenwart nutzbar zu machen.

Mouhanad Khorchide im Interview

Übereinstimmungen zwischen den monotheistischen Religionen

Der Glaube an die Barmherzigkeit des einen Gottes verbindet den Islam mit dem Christentum - und mit dem Judentum. Hier geht es vor allem um das Wirken Jesu. Das heißt: Die Muslime sehen in Jesus, wie Khorchide betont, den Träger einer göttlichen Botschaft, deren Inhalte, nämlich Gottes Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den Menschen, sie mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern im Christentum teilen würden. Insgesamt wird Jesus im Koran über 100 Mal erwähnt.

Im Übrigen könne man – so Khorchide – wenn man die Annahme von Gottes Liebe und Barmherzigkeit und deren Verwirklichung im Handeln als "Islam" definiere, den Islam als den Kern aller Religionen betrachten, die zu Liebe und Barmherzigkeit aufrufen. So gesehen, wären also die Christen - und die Juden - gleichzeitig Muslime. In diesem Sinne würden auch im Koran Abraham, Lot, Noah sowie die Anhänger Jesu als Muslime bezeichnet.

Daraus könnte man meiner Meinung nach folgern, dass es für die Abgrenzung zwischen den monotheistischen Religionen keine triftigen religiösen Gründe gibt, sondern dass diese Grenzziehung in erster Linie auf die Vermischung von Religion und Politik zurückzuführen ist.

Fazit

Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide möchte die in der islamischen Welt gegenwärtig noch weit verbreitete Theologie des Gehorsams und der Angst ersetzen durch eine Theologie der Barmherzigkeit und der Freiheit, damit sich der Islam von der Politik emanzipieren, folglich nicht mehr für politische Interessen instrumentalisiert werden kann und endlich sein menschenfreundliches Potenzial entfalten kann. Damit könnte – folgt man Khorchide – aber auch der Zwist zwischen den monotheistischen Religionen sowie der Konflikt innerhalb des Islam zwischen Sunniten und Schiiten überwunden werden.

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