Gedenktafel in Berlin-Biesdorf

Gedenktafel in Berlin-Biesdorf (Bild: © OTFW/Wikipedia)

Flucht im Kofferraum

Ronald M. flüchtete als 6-Jähriger mit seiner Mutter von Ost nach West, nicht aus politischen Gründen, sondern aus Liebe. Eng aneinandergeschmiegt im Kofferraum haben sie gelegen und sind in Lehrte bei Hannover gelandet. Um das zu illustrieren, legen sich tatsächlich zwei Schauspieler als Ladung in den Heckbereich eines Autos, das auf der Bühne steht, zusammen mit einem kleinen Schreibtisch, einem Podest, einem Globus, einer Marxbüste, einem Kaugummiautomaten, Stühlen, Büchern und Regalen. Eine Insel auf einer Drehscheibe, die alle möglichen Requisiten des Westens aufweist. Und auf der Leinwand geht es weiter: man sieht Nina Hagen, Che Guevara, Bruce Lee, das Neue Deutschland, Karl Marx, ein FDJ-Plakat und einiges mehr. Groß ist der Schock der Mutter, als sie entdeckt, dass ihr Mann eine andere Frau und sogar Kinder hat. Weit entfernt von ihrem Schoß zerbirst die Liebe der unverbrüchlichen SED-Genossin, die sich nicht als Politische versteht und aus rein privaten Motiven im Westen unterwegs ist. Margit Bendokat ist diese Mutter, die sich hartnäckig weigert, in den Ämtern, in denen sie wie Ware herumgereicht und weitergeschickt wird, ihr Kreuz unter ‚politischer Flüchtling' zu setzen. Ein simpler Handstreich mit dem Stift wäre nicht nur aus versorgungstechnischen, besser: pekuniären Gründen cleverer gewesen, aber es gibt immer noch Personen, für die moralische Integrität, Gesinnung und Idealismus mehr zählen. Und es wird sie immer wieder geben.

 

Die schwule, linke Clubszene West-Berlins

In der Bühnenecke, wie ein abgelöster Einsprengsel abseits von den Schernikau-Akteuren sitzend, erzählt sie die Geschichte der Mutter, erzählt vom Leidensweg im Osten, von der Entwurzelung und der Sehnsucht nach dem Osten. Margit Bendokat ist ein Einschub, wenn die anderen Darsteller gerade pausieren, und sie macht diesmal ihre Sache hervorragend, trifft genau den richtigen Ton und liefert dazu dass passende Gesicht, im Gegensatz beispielsweise zu Heiner Müllers "Mommsenblock", den sie doch arg verballhornt hat. Die Macht der Mutter-Worte ist stärker als kapitalistische Infiltrationen. Ihr Sohn Ronald M. erliegt nicht den Verlockungen des Westens und tritt schon mit 16 Jahren der DKP bei. Schon der 20-jährige Abiturient hält es für notwendig, ein literarisches Geständnis abzulegen: Das Buch "Kleinstadtnovelle" erscheint, im Gepäck ein exklusives Coming-out. Als exklusiv hat er sich immer verstanden, vor allem seit seiner Übersiedelung nach West-Berlin, wo er in die schwule, linke Clubszene abtaucht. Für das Ensemble "Ladies Neid" schreibt er das Stück "Die Schönheit", und das veranlasste Bastian Kraft dazu, die Schauspieler in eine Höhle der Bühneninsel zu schicken. Was da geschieht, geriert sich wie eine Frank-Castorf-Adaption, inklusive Handkamera und Projektion auf die Leinwand. Wiebke Mollenhauer wirkt mit ihrer Perücke wie Kathrin Angerer, und man fühlt sich zu sehr an das Original am Rosa-Luxemburg-Platz erinnert. Der einzige wirkliche Schwachpunkt dieser recht prätentiösen Collage.

 

Die Tage in L. - Schernikaus Buch über Leipzig

© Konkret Verlag

 

Dort wo die Sonne aufgeht

Auch die Popkultur hält Einzug in den Kammerspielen, der junge Dichter bleibt davon nicht unberührt. Eine Frage wird in den Raum geschleudert: Wer war wichtiger, Heiner Müller oder Marilyn Monroe? Schernikau präferiert die verschiedensten Lebensbereiche und Kulturen, verschneidet sie miteinander, aber alles rauscht doch irgendwie an ihm vorbei: Sein Herz schlägt woanders, dort, wo die Sonne aufgeht. Seinen momentanen Sonnenuntergang, den bitteren Beigeschmack versucht er sich durch ein Studium an der FU-Berlin behelfsmäßig zu versüßen, aber schon 1986 wechselt er aus Regenerierungsgründen an die Uni Leipzig. Nach Absprache mit Peter Hacks plant er seinen kompletten Umzug in die DDR, weil das Politische alles andere überwiegt und er sich als Dichter dort erhöhte Chancen ausrechnet. Bernd Moss spielt Hacks jovial, kumpelhaft, mit souveräner Getragenheit auch. Als 175er gab's "drüben" keine Probleme, der Paragraph war längst abgeschafft, in der BRD hingegen existierte er noch in milderer Form. Natürlich war Aids ein besonderes wichtiges Thema, und so lässt der Regisseur eine Schernikau-Figur ausrufen: Man nimmt doch auch beim Kauf eines Autos einen Unfall in Kauf! Ronald M. macht weiter wie zuvor und nimmt alle Risiken hin. Und ihn erwischt's prompt, zunächst glauben er und die Ärzte an Krebs oder andere Krankheiten. Ein "Stern"-Artikel lässt ihn aufhorchen: Nicht alle Männer haben Analverkehr! Doch die Würde der Geächteten war damit noch lange nicht gerettet. In Berlin-Hellersdorf gelandet, betrachtet er den Umsturz aus der Horizontalen, auf dem Krankenlager. Die Konterrevolution hat von der DDR Besitz ergriffen. Das Leben rinnt ihm zwischen den Fingern hindurch. Ein großes Plus der Inszenierung ist die gute Harmonie der Schauspieler – in diesem Fall ist die Vermehrfachung einer Figur gelungen. Trotz einiger Durchhänger ein anregender Abend, an dessen Ende sich Schernikaus leibhaftige Mutter bei den Schauspielern durch Küsschen bedankt.

Die Schönheit von Ost-Berlin
Eine Ronald-M.-Schernikau-Collage
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Musik: Ingo Schröder, Dramaturgie: John von Düffel, Licht: Thomas Langguth.
Mit: Bernd Moss, Margit Bendokat, Wiebke Mollenhauer, Elias Arens, Thorsten Hierse.

Deutsches Theater Berlin

Premiere vom 7. November 2014
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

 

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