Die Milliarde im Hinterkopf

Die unbestrittene Chef-Claire ist Margit Bendokat, die sich gern in einer faschingsartigen Sänfte wie eine gerontokratische Sonnenkönigin durch den Ort gleiten lässt. Getragen wird sie von zwei bodygestählten Männern, die Vorstadtindianern gleichen, als seien sie ein US-Import aus einem bizarren Reservat. Abgesehen von diesem Anflug von Exotismus verzichtet der Regisseur Kraft auf Claires Entourage: Die fünf Verkörperungen sind ihm genug. Er präferiert die Strategie des Aussparens. Aus diesem Grund müssen die Darsteller Doppelrollen übernehmen, sie agieren als Bürger, Bürgermeister und spröde Verwalter des heiligen Stuhls. Letzterer bestellt sich schon eine neue Kirchenglocke, so wie alle Bürger plötzlich der Kreditwirtschaft huldigen. Alles wird auf Pump gekauft – die Leute haben die Milliarde im Hinterkopf, die Claire für den Ermordung von Alfred versprochen hat. Irgendeiner wird ihn schon liquidieren, das einst zerstreute Kollektiv wächst angesichts des erwarteten Konjunktur-Booms zusammen.

 

Gerechtigkeit ist Interpretationssache

Ulrich Matthes spielt Alfred, er ist das einkalkulierte Opfer, er ist letztlich der Blitzableiter, verantwortlich für den Verfall von Güllen. Aus einer individuellen Schuld entsteht eine kollektive Schuld, die viel schwerer wiegt. Der Widerstand von Alfred ist mickrig, er wird moralisch und erklimmt dadurch eine Höhe, die anderen versagt bleibt. Aber als Betroffener lässt sich leicht lamentieren und von einer Fairness schwadronieren, die er sonst nie an den Tag gelegt hätte. Gerechtigkeit ist Interpretationssache, die damals verstoßene Claire hält Alfreds Eliminierung für Gerechtigkeit, auf staatlicher Ebene würde man sagen: Revanchismus. Matthes als Tante-Emma-Verkäufer und jäh Gedemütigter spielt mit angezogener Handbremse, sein Alfred beugt sich ohne größeres Aufbegehren in sein Schicksal. Ein Triumph der Bestechlichkeit, aber vor allem des Fatalismus. Als der Kleinbürger-Krämer aus lauter Angst auswandern möchte und am Bahnhof steht, wird er von der Menge der Zachanassians bedrängt. Niemand hindert ihn an der Abfahrt, er vermutet es nur und läuft davon wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz.

 

Künstlich verbrämte Materialschlacht

Friedrich Dürrenmatt

© Elke Wetzig/ Wikimedia

 

Die von Lady Gaga inspirierte Inszenierung wird von Klavier-Musik (Thies Mynther) begleitet und die Kulisse kleistert alles zu. Vor lauter Staffage wird der Stoff beinahe erdrückt, die künstlich verbrämte Materialschlacht und das Showgehabe helfen der Tragikomödie aber auch nicht weiter. Das ist etwas für den US-Geschmack, der viel Verzierung benötigt und nicht zum wahren Kern vordringen möchte. Und der liegt nun einmal in den Verführungen der Marktwirtschaft, in der Neigung zu Kreditwirtschaft, Manipulation und Korruption. Was schließlich herauskommt, ist ein Komödienstadel, angefüllt mit ausgebremsten tragischen Elementen. Selbst die Gerichtsverhandlung mit dem Entschluss zur Beseitigung gerät zur Show – das ist zu wenig, zumal auf Psychologie und Figurenentwicklung vollständig verzichtet wird. Der Versuch war es wert, doch er ist nicht gelungen.

Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Simeon Meier, Kostüme: Dagmar Bald, Bühnenmusik/Arrangements: Thies Mynther, Video: Jonas Link, Dramaturgie: Ulrich Beck, John von Düffel.
Mit: Ulrich Matthes, Olivia Gräser, Margit Bendokat, Helmut Mooshammer, Katharina Matz, Barbara Schnitzler, Marof Yaghoubi, Alexander Rohde, Thies Mynther (Musik).

Deutsches Theater Berlin

Premiere vom 17. April 2014

Dauer: 90 Minuten, keine Pause

 

 

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