© Arno Declair

 

 

 

Doppelgänger sind verspielter als die Originale

Anne Lenk, das ist die Regisseurin, die so großartige Inszenierungen wie "Phosphoros" (Ruhrfestspiele Recklinghausen/ Residenztheater München) und "Das Fest" (Deutsches Theater) geschaffen hat. Die Frage war nun, wie sie mit diesem für Schimmelpfennig-Verhältnisse sehr unpoetischen Text umgeht. Aus der Realität flüchtet sie sich in die Groteske, ohne die Schlichtheit des Unternehmens fallen zu lassen. Geht der goldfarben changierende Vorhang auf, so tauchen Märchenwesen auf. Das erste Anzeichen des Einfalls einer Phantasiewelt geschieht durch die Verwandlung des Mannes (Camill Jammal) in einen gigantischen Blusenknopf. Die Rezeptionistin seines Büros hält eine große Schale vor sich, eindeutig als Knopf identifizierbar. Vollständig aus den Fugen gerät die Welt, als besagter Doppelgänger gemütlich am Tisch sitzt, wie wenn das eine Selbstverständlichkeit wäre. Die Gattin bevorzugt es, überrascht und konsterniert dreinzublicken, als habe man sie überrollt. Im Übrigen tragen die drei Frauen, also die Frau, die Doppelgängerin und die Tochter (Franziska Machens, Maike Knirsch und Tabitha Frehner) allesamt blonde Lockenperücken, um das Identische hervorzustreichen. Die Zwillinge kommen um diesem Naturstreich herum, sie befinden sich in der Unschuld des Werdens und sind noch nicht durch den eintönigen Alltag verbogen. Die Doppelgänger sind wesentlich verspielter als die Originale, sie lassen sich weit mehr gehen, zerstören die verhasste Fichte im Garten und tanzen nackt herum. Die Schatten sind länger als die "Lichtgestalten". "Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten." (Karl Kraus)

 

© Arno Declair

 

 

Begrenzte Wirkungsmöglichkeiten

Nun könnte man behaupten, die beiden Kopien sind wesentlich enthemmter und freier, da sie dem Joch der Gewohnheit entronnen sind. Aber Schimmmelpfennig setzt ihren Wirkungsmöglichkeiten Grenzen – die Schattenwesen fallen nicht durch besonders exzentrisches Verhalten auf. Aus dem Stück hätte man mit etwas Mut sehr viel mehr machen können. Etwa, dass die Doppelgänger jene Triebe ausleben, die die Originale seit langem resigniert unterdrückt haben. Oder dass sie aus sich heraustreten und den Alltag sprengen. Hier wäre man ganz nahe an Sigmund Freud. Leider handelt es sich hierbei um einen längeren, doch nicht entgrenzten Schatten, der sich vom "Schlemihl" unterscheidet, dem wohl schönsten deutschen literarischen Märchen (Adalbert von Chamisso). Erstaunlich flach ist der Text diesmal, die Dialoge der Figuren sind meistens banal und nichtssagend. Anne Lenk bemüht sich verzweifelt, noch etwas aus dem Stück herauszuholen und es transparenter zu machen. Kurz, es ist der schlechteste Schimmelpfennig, der im Deutschen Theater jemals abgeliefert wurde. Schimmelpfennig scheint sich in einer künstlerischen Krise zu befinden. Es bleibt zu hoffen, dass er nicht eines Tages mit seinem Doppelgänger am Tisch sitzt.

 

Der Tag, als ich nicht ich mehr war
von Roland Schimmelpfennig
Uraufführung
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sibylle Wallum, Musik: Camill Jammal, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Maike Knirsch, Franziska Machens, Elias Arens, Camill Jammal, Jeremy Mockridge,

Tabitha Frehner.

Deutsches Theater Berlin, DT-Kammerspiel, Uraufführung vom 12. Januar 2018.
Dauer: 70 Minuten, keine Pause

 

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