Erstaunlicherweise wurden diese Völker von der Nachwelt dennoch fast völlig vergessen. Bestenfalls legendenhafte Erzählungen blieben erhalten, von antiken Schriftstellern bis zur Unkenntlichkeit abgeändert. Kein Wunder also, dass die detaillierten Angaben der Bibel über die Herrscher und Reiche Mesopotamiens kaum ernst genommen wurden.

Dies änderte sich schlagartig, als Archäologen Mitte des 19. Jahrhunderts Paläste und Städte aus dem Wüstensand gruben, welche die biblischen Geschichten bestätigten. Was den Forschern nun noch fehlte, waren schriftliche Hinterlassenschaften.

Rätselhafte Zeichen: Wirkliche Schrift oder nur Ornamente?

Diese waren der Wissenschaft zum Zeitpunkt der Ausgrabungen zwar schon mindestens 200 Jahre bekannt, doch die heute allgemein Keilschrift genannten Muster wirkten so fremdartig und kompliziert, dass niemand sie zu deuten vermochte. Erschwerend kam hinzu, dass die Keilschrift im Laufe ihrer jahrhundertelangen Verwendung offensichtlich einige Veränderungen durchlaufen hatte. Zeitweise glaubte man deshalb sogar, es handle sich lediglich um Ornamente, nie und nimmer jedoch um eine Schrift!

Die Entschlüsselung der Keilschrift erschien undenkbar, denn man hatte dafür nahezu keine Anhaltspunkte. Neben fehlenden Vergleichstexten in anderen Sprachen mangelte es vor allem an ganz simplen Informationen: Musste man die Schrift von links nach rechts lesen oder umgekehrt, vielleicht sogar von oben nach unten? Handelte es sich um eine Lautschrift mit Buchstaben, oder gaben die Zeichen wie bei den ägyptischen Hieroglyphen nur Synonyme und Wortgruppen wieder?

Die wissenschaftlichen Folgen einer Wette

Kurioserweise existierten die entsprechenden Antworten darauf bereits. Weitgehend unbeachtet hatte Jahrzehnte zuvor ein Deutscher den Grundstein zur Entzifferung der Keilschrift gelegt. Der Mann hieß Georg Friedrich Grotefend, wurde am 9. Juni 1775 geboren und war im Jahr 1802 gerade als Hilfslehrer in Göttingen tätig, als er weinselig eine folgenschwere Wette annahm: Er behauptete, die ihm vorgelegten Kopien einiger persischer Tontafeln entziffern zu können. Die Wette gewann er dank seiner erstaunlichen Denkleistung und entzifferte dadurch die ersten zehn Zeichen der Keilschrift.

Zunächst leitete Grotefend aus der Beschaffenheit der Zeichen ab, dass es sich um eine reine Buchstabenschrift handeln musste. Die Anordnung der Keile wies ihm zudem die Leserichtung: Analog der heutigen Schrift zeilenweise von links nach rechts, oben beginnend. Erst die eigentliche Deutung der Zeichen jedoch zeugt von der Genialität des Hilfslehrers. Grotefend ging von zwei grundsätzlichen Annahmen aus:

1. So, wie wir heute (beispielsweise in Briefen) bestimmte Standardformulierungen benutzen, fassten auch die Perser ihre Berichte stets im gleichen Stil ab.

Grotefend nahm nun an, dass eine bekannte Floskel aus neupersischen Zeiten auch im altpersischen Sprachgebrauch verwendet wurde: "(Name), Großkönig, König der Könige, König von (Ländereien), Sohn des (Name des Vaters), Großkönig, König der Könige..." Im Prinzip also eine Aufzählung des königlichen Stammbaumes.

2. Daraus abgeleitet, deutete Grotefend eine besonders häufig vorkommende Zeichengruppe ganz richtig als das Wort "König".

Rätsel um eine Königsfamilie

Der Anfang schien also geschafft. Allerdings war auf diese Weise lediglich ein Wort, nicht aber die Bedeutung einzelner Zeichen ermittelt worden. Erneut stellte der 27 jährige Hilfslehrer nun seinen überragenden Scharfsinn unter Beweis:

*Ihm fiel zunächst auf, dass alle ihm vorliegenden Tontafeln nur zwei verschiedene Zeichengruppen in Verbindung mit dem Wort "König" aufwiesen.

*Diese Zeichengruppen stellten also höchstwahrscheinlich die Namen zweier Herrscher dar.

*Da beide Namen teilweise gemeinsam auftraten, handelte es sich laut dem oben genannten Schema also um Vater und Sohn.

*Schließlich bemerkte Grotefend, dass bei getrennter Nennung der Könige immer nur hinter einem Vater-Namen das Zeichen für "König" stand.

*Es musste sich also um drei Generationen handeln, bei welchen nur Vater und Sohn den Königstitel trugen, nicht aber der Großvater.

*Tatsächlich fand Grotefend in der spärlich bekannten Geschichte der Perser mehrere solcher Generationenfolgen und ermittelte über den Vergleich der Namenslängen sowie der Anfangsbuchstaben schließlich die richtigen Namen.

Die Übersetzung der ersten Keilschrift-Zeichen

Aus der hier stark vereinfacht wiedergegebenen Vorgehensweise Grotefends ergab sich, dass in den Schriftstücken die Könige Darius I. und Xerxes benannt wurden. Bei der Person ohne Königstitel handelte es sich um Hystaspes, den Vater des Darius. Aus diesen Namen konnte Grotefend somit die ersten zehn (nach anderen Quellen zwölf) Zeichen der Keilschrift entziffern.

 

 

Darstellung des Namens Darius in Keilschrift

 

 

 

 

Die Gelehrtenwelt fand an der zwingend logischen Beweiskette des jungen Mannes keine gravierenden Fehler. Der Göttinger Hilfslehrer hatte somit seine Wette gewonnen. Der Gewinn für die Wissenschaft allerdings war ungleich höher, denn andere Forscher erweiterten nun nach und nach die Ergebnisse Grotefends. Die unbekannte Welt des Altertums konnte infolge dessen erschlossen werden.

Vergessenes Wissen: Die erneute Entschlüsselung der Keilschrift

 Doch eigenartigerweise geriet das gesammelte Wissen um die Keilschrift noch einmal in Vergessenheit. Als Jahre später die archäologische Erschließung Mesopotamiens begann, rätselten die Ausgräber daher völlig unnötig über den seltsamen Keilzeichen.

 Es gehört zu den Kuriositäten der Wissenschaftsgeschichte, dass die Keilschrift ein zweites Mal entziffert werden musste. Ohne die Arbeiten Grotefends zu kennen, gelang einem englischen Offizier namens Henry Creswicke Rawlinson ab 1837 die erneute Entschlüsselung der Keilschrift. Später stellte sich heraus, dass Rawlinsons Lösung fast vollständig mit den deutschen Forschungsergebnissen übereinstimmte. Somit wurden die genialen Gedankengänge Grotefends posthum in ihrer Richtigkeit bestätigt.

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