Der Unterschied zwischen Sage und Märchen

Im Jahre 1816 gaben die Brüder Grimm den ersten, zwei Jahre später den zweiten Band ihrer Sammlung deutscher Sagen heraus. Damit trugen die berühmten Märchensammler auch zur Überlieferung dieser epischen Gattung maßgeblich bei. In ihrem Vorwort versuchten sie die Sage vom Märchen zu unterscheiden: Das Märchen sei poetischer, die Sage historischer. Was ist damit gemeint? Märchen sind bezüglich Ort, Zeit, Personal und Handlung rein fiktional, also erfunden oder "erdichtet". Sie erheben keinerlei Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Dagegen bezieht sich die Sage häufig – obschon freilich alles andere als geschichtlich korrekt – auf eine bestimmte Zeit, real existierende Orte und historische Persönlichkeiten. Dadurch vermittelt sie den Anspruch, von tatsächlich geschehenen Ereignissen zu berichten.

Die Sage will also glaubwürdig wirken und geglaubt werden. Ein weiteres Unterscheidungs- und Definitionskriterium ist die Textlänge: Sagen sind in der Regel kürzer als Märchen und einepisodig, zudem besitzen sie einen simplen Aufbau und einen reduzierten, oft parataktischen Satzbau.

Merkmale der Sage – das Unheimliche, Volksglaube und Dialekt

Es gibt allerdings auch eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden Gattungen: Die Existenz des Übernatürlichen oder Wunderbaren. Während dieses jedoch im Märchen als "normal" im Sinne von alltäglich wahrgenommen wird und somit unhinterfragt bleibt (meist ist Zauberei auch ein Mittel der guten Kräfte), erscheint es in der Sage oft als verstörender Einbruch und unheimliche Bedrohung. Das Numinose kollidiert gewissermaßen mit dem Profanen. Dabei flossen zahlreiche Elemente heidnischen und christlichen Volksglaubens ein: Riesen, Zwerge, Geister und Nixen tummeln sich in so mancher Sage, aber auch der Teufel ist eine häufig auftretende Figur.

Neben dieser Form unheimlicher Sagen gibt es solche, die eine primär erklärende Funktion haben – sei es hinsichtlich eines ungewöhnlichen Ereignisses, eines ominösen Bauwerks oder einer geheimnisumwitterten Persönlichkeit. Ein weiteres Merkmal ist sprachlicher Natur: Aufgrund ihres Ursprungs in der Erzählwelt des Volkes sind viele Sagen von Dialekt und regionalen Ausdrucksformen geprägt.

Die drei Sagentypen nach Bausinger

Nach dem berühmten Volkskundler und Sagenforscher Hermann Bausinger (*1926) kann man die Sage hinsichtlich ihrer Motive und inhaltlicher Aspekte in drei Großgruppen einteilen: Die dämonische Sage, die historische Sage und die Erklärungssage. Die Abgrenzung der einzelnen Gruppen ist nicht immer eindeutig und die Übergänge sind fließend. Dennoch schafft die Kategorisierung einen guten Überblick, wirkt ordnend und präzisierend hinsichtlich Wesen und Ursprung einzelner Sagen sowie der Gattung an sich. Die Merkmale der drei Großgruppen werden im Folgenden erläutert.

Die dämonische oder mythische Sage

Die mythischen oder dämonischen Sagen stellen die eigentlichen Volkssagen dar. Sie beinhalten als konstituierendes Merkmal das Übernatürliche, d.h. magische oder mythische Elemente. Diese erscheinen oft im Zusammenhang mit einem Erlebnis, das beispielsweise eine Begegnung sein kann. Diesen dämonischen Sagen lassen sich wiederum Untergruppen zuordnen: Dazu gehören Sagen von übernatürlichen (dämonischen) Wesen wie Zwergensagen. Des Weiteren Sagen, in denen Menschen das dämonische Wesen transportieren, indem sie sich des Übernatürlichen bedienen – Hexer, Teufelsbündler und ähnliche Gestalten.

Die größte Untergruppe der dämonischen Sage bilden die Totensagen: Diese erzählen beispielsweise von Wiedergängern, von armen Seelen und vom Wilden Heer. In ihnen werden archaische Vorstellungen von lebenden Toten erkennbar: Menschen, die gewaltsam starben oder nicht begraben wurden, wird der Eintritt in das Jenseits verweigert und sie kehren wieder. Dieser Volksglaube tritt häufig mit einem Vergeltungs- und Gerechtigkeitsaspekt auf – entweder wird das widernatürliche Dasein als Strafe für unsoziales oder gotteslästerliches Verhalten erklärt oder andersherum ein solches Verhalten durch das wiederkehrende Opfer bestraft. Die nordischen Sagas (Typus der Geschlechtersage), Götter- und Heldensagen gehören nicht zu den dämonischen Sagen oder Volkssagen.

Die Erklärungssage oder Ursprungssage

Die mitunter zu den dämonischen Sagen gezählte Ursprungs- oder Erklärungssage versucht eine gegenständliche – beispielsweise ein Bauwerk oder ein Denkmal, deren ursprüngliche Bedeutung und Entstehungsgeschichte verloren gegangen sind – oder eine abstrakte – einen Namen, einen Brauch oder eine Redensart – Realität zu erklären. Naturerscheinungen, Ortsnamen, seltsame Abdrücke im Gestein oder ein dunkler Weiher: Die Ursprünge einer Erklärungssage können vielfältig sein.

Die historische Sage – Erdichtetes mit wahrem Kern

Die historische Sage handelt dagegen von einem historischen Ereignis oder einer historischen Person (vgl. Legende). Dabei geht es nicht um eine faktische Wiedergabe, sondern um eine subjektive Darstellung, die bestimmte Details oder Eigenschaften hervorhebt.

 

Die große Zeit der Sagen mag vorbei sein, doch auch unsere Zeit bringt ihre Sagen hervor: Schier unglaubliche Berichte, die dennoch für bare Münze genommen werden. So genannte moderne Sagen oder "urban legends" – urbane Mythen – sind keineswegs selten und greifen teilweise auf traditionelle Inhalte in modernisierter Fassung zurück. Kein Wunder: Die Sage entspricht einem irrationalen Grundbedürfnis des Menschen, sie erweckt Emotionen wie Angst oder Staunen und stellt insofern immer noch eine wichtige Form der Alltagserzählung dar.

 

Quellen:

Leander Petzold: Einführung in die Sagenforschung. UTB Verlag, 2002.

Hans Gerd Rötzer: Märchen, Sage, Götter- und Heldensagen, Legende, Schwank, Fabel. Literarische Texte verstehen und interpretieren (Bd.1). Manz Verlag, 1992.

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