Die faszinierende Welt der Goldberg-Variationen
Mit aller Musik soll Gott geehrt und die Menschen erfreut werden. (Johann Sebastian Bach)Über die Entstehungsgeschichte der "Goldberg-Varationen"
Wie sind die "Goldberg-Variationen" eigentlich entstanden? Die Antwort auf diese Frage ist ernüchternd, denn man muss auf eine Legende zurückgreifen, da es keine genauen historischen Informationen gibt. Der Legende nach komponierte Bach das Werk auf Wunsch von Graf Hermann Karl von Keyserling. Der Graf litt häufig unter Schlaflosigkeit und bat Bach, eine beruhigende Musik zu schreiben, die sein Cembalist Johann Gottlieb Goldberg spielen sollte, um ihm beim Einschlafen zu helfen. Wenn wir diese Version der Entstehung der "Goldberg-Variationen" glauben schenken, wissen wir zumindest, warum die "Clavierübungen" heute als Goldberg-Variationen bekannt sind. Hieraus lässt sich meiner Meinung nach etwas Wichtiges ableiten: Eine weitere Legende besagt, dass Goldberg Bachs Schüler war. Bach kannte also die Stärken und Schwächen von Goldbergs Spiel. Außerdem war Bach dafür bekannt, dass er bei neuen Schülern erst vorspielen ließ, ihre Schwachstellen erkannte und dann ein Stück komponierte, mit dem sie diese gezielt verbessern konnten.
Ich glaube, wir müssen aufhören, Bach nur als genialen Musiker zu glorifizieren. Bach war auch ein herausragender Pädagoge. Werke wie "Das wohltemperierte Klavier", das Pianisten befähigen soll, in allen Dur- und Moll-Tonarten zu spielen, sowie die "Notenbüchlein" für seine zweite Frau Anna Magdalena und seinen Sohn, unterstützen diese Sichtweise. Doch selbst als Pädagoge beeindruckt uns Bach mit seiner Genialität – auch die Goldberg-Variationen sind ein Beleg dafür.
Über den Aufbau des Werks: Von der Aria zu den Variationen
Wenden wir uns nun der Frage zu, wie dieses Werk aufgebaut ist. Die "Goldberg-Variationen" sind schlicht konzipiert. Sie bestehen aus einer Arie und 30 Variationen. Danach folgt noch einmal die Arie, wodurch das Werk eine zyklische Struktur erhält. Eine Aria oder Arie ist ein solistisches Gesangsstück, das oft in Opern, aber auch in Bachs Passionen oder Kantaten verwendet wird. Eine Arie dient unter anderem dazu, emotionale Momente auszudrücken. Ein Beispiel gefällig? Hier kommt eines: Im ersten Akt der "Zauberflöte" erhält der Prinz Tamino ein Bild von Pamina. Das, was er beim Anblick dieses Bildes empfindet, bringt er in der Bildnisarie zum Ausdruck. Charakteristisch für eine Arie ist, dass die Handlung stillsteht. Es geht nur um Gefühle. Natürlich wird in den "Goldberg-Variationen" nicht gesungen. Es geht darum, eine Melodie vorzustellen, die von ihrem Charakter her sehr emotional ist. Diese Melodie ist Bestandteil aller 30 Variationen, die anschließend folgen, denn die Basslinie dieser Melodie wird Ihnen im Laufe des Werkes immer wieder in verschiedenen Formen begegnen. Dies ist ein wesentliches Merkmal einer Variation, sei es in der Musik oder im realen Leben: Sie basiert auf einer Vorlage, die immer wieder in einer neuen Gestalt erscheint.
Wichtig für den Aufbau der "Goldberg-Variationen" ist die Tatsache, dass jede dritte Variation auf einem Kanon basiert. Ein Kanon ist eine Melodie, bei der mehrere Stimmen nacheinander erklingen. Die einzelnen Stimmen setzen also zeitlich versetzt ein, finden am Ende aber doch wieder zusammen.
Fassen wir all diese Informationen noch einmal zusammen: Die "Goldberg-Variationen" bestehen aus einer Arie, die sowohl am Anfang als auch am Ende gespielt wird, und deren Basslinie 30 Mal variiert wird, wobei jede dritte Variation die Struktur eines Kanons aufweist.
Die Variationen: Virtuosität und Vielfalt
Da jede der 30 Variationen eine neue musikalische Idee beinhaltet, was jeder Variation letztendlich einen eigenen Charakter verleiht, sind die 'Goldberg-Variationen' mehr als nur 'Clavierübungen'. Sie sind auch Ausdruck von Bachs kompositorischem Können. Bach kombiniert hier tänzerische Stücke, demonstriert seine Meisterschaft im Kontrapunkt und fordert vom Interpreten Virtuosität, aber, wie im Falle der Aria, auch Einfühlungsvermögen.
Doch kehren wir noch einmal kurz zum Ursprung dieses Werkes zurück. Der Ursprung war ein Graf, der nicht einschlafen konnte. Doch wie soll man bei dieser Vielfalt an Virtuosität einschlafen? Das war lange Zeit meine Frage, wenn ich die Goldberg-Variationen hörte. Im Laufe der Zeit kam ich zu der Überzeugung, dass Bachs Schüler Goldberg in Situationen, in denen der Graf nicht schlafen konnte, lediglich die Aria spielte. Für den Rest des Tages boten die Variationen genug Stoff, mit dem Goldberg seine Fähigkeiten als Musiker trainieren konnte. Diese Gedanken sind nur Theorie und lassen sich nicht wissenschaftlich belegen, aber sie greifen drei wichtige Aspekte auf. Erstens ist die Aria die Grundlage für alles, was darauf folgt. Zweitens steht sie am Anfang und am Ende des Werkes, was ihre Wichtigkeit unterstreicht, und drittens ist es, wenn man das Gesamtwerk betrachtet, der einzige Moment, in dem man einschlafen kann.
Warum sind die "Goldberg-Variationen" auch heute noch so beliebt?
Ich glaube, die Antwort auf diese Frage liegt in der im letzten Abschnitt erwähnten Vielseitigkeit, die vom Interpreten gefordert wird. Auf der anderen Seite hat der Interpret aber auch sehr viel Freiheit, dieses Werk zu gestalten. Tatsächlich wage ich die Behauptung, dass jede Interpretation dieses Werkes etwas Neues enthält, das es zu entdecken gilt. Diese Aussage trifft auf kein anderes mir bekanntes Werk der klassischen Musik zu.
Ein Interpret ragt unter den vielen, die sich mit diesem Werk auseinandergesetzt haben, besonders heraus. Es handelt sich um den kanadischen Pianisten Glenn Gould. Gould spielte die "Goldberg-Variationen" zweimal ein. Die erste Einspielung stammt aus dem Jahr 1955 und dauert circa 40 Minuten. Die zweite Einspielung stammt aus dem Jahr 1981 und dauert etwa 53 Minuten. Nur zum Verständnis: Es sind die gleichen Noten und derselbe Interpret. Doch innerhalb von 26 Jahren hat Glenn Gould offensichtlich seine Einstellung zu diesem Werk komplett verändert.
Letztendlich war die Einspielung von Glenn Gould an zwei Stellen meines Lebens maßgeblich prägend. Die erste Situation ereignete sich 2021, als meine Frau und ich mein Elternhaus verkauften. Da ich in diesem Haus meine Kindheit und Jugend verbrachte, war das für mich eine sehr emotionale Angelegenheit. Ich erlebte, wie das komplette Haus entrümpelt wurde, unterschrieb den Verkaufsvertrag und kehrte danach noch einmal in das Haus zurück. Während ich durch das leere Haus und den Garten ging und mich später mit einem Glas Cola an den Pool setzte, hörte ich die "Goldberg-Variationen" mit Glenn Gould. Für diesen Moment war diese Musik einfach perfekt.
Zwei Jahre später erhielten meine Frau und ich die Nachricht, dass meine Mutter im Sterben liegt. Wir fuhren ins Heim und setzten uns an ihr Bett. Irgendwann kam meine Frau auf die Idee, Musik einzuspielen. Ich durchstöberte die Playlist auf meinem Smartphone und stieß plötzlich wieder auf die "Goldberg-Variationen" mit Glenn Gould. Bei beiden Ereignissen handelte es sich übrigens um die Einspielung aus dem Jahr 1981.
Auch solche persönlichen Geschichten unterstreichen sicherlich die Beliebtheit der "Goldberg-Variationen". Sicherlich werden Sie mir beim Hören zustimmen, dass es sich hierbei um mehr als nur "Clavierübungen" handelt. Die "Goldberg-Variationen" sind sowohl für Hörer als auch für den Interpreten sehr herausfordernd. Aber vor allen Dingen sind sie ein Zeugnis für die Größe und Genialität von Johann Sebastian Bach.
Vielen Dank, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn er Ihnen gefallen hat, gefällt Ihnen garantiert auch meine Kurzgeschichte "Durchkreuzte Pläne". Zusätzlich würde ich mich natürlich freuen, wenn Sie diesen Artikel mit Ihren Freunden und Verwandten teilen oder ihn bewerten.
Bildquelle:
Donnaya
(Gothic, Mittelalter, Dark Metal - Musik außerhalb des Mainstreams)