Irgendwo zwischen Dresden und Hof im Wagon der Mitteldeutschen Regionalbahn.

 

1. Akt

Schon beim Einsteigen fällt das neuartige Design des Wagons auf, mit einem großzügigen Einstiegsbereich an den Türen und schicken Wandverkleidungen mit integrierten Leuchten. Hat man dann seinen Platz erreicht uns lässt sich auf den durchaus bequem gepolsterten Sitz nieder, fällt im nächsten Moment auf, dass es keine Gepäckablage gibt. Kann eigentlich nicht sein, ist der erste Gedanke, gerade im Regionalzug ist niemand ohne nicht mindestens ein Gepäckstück unterwegs. Ein kurzer Blick durch das Abteil bestätigt aber die Vermutung. Jeder Reisende hat seinen Koffer, Tasche oder Rucksack neben sich auf dem Platz gestellt. Was den Effekt hat, dass schon in einem halb gefülltem Zug alle Sitzplätze belegt sind. Immer noch zweifelnd schaue ich nach oben und mustere aufmerksam die über mir hängende Verkleidung. Nur eine 15 Zentimeter breite Ablage. Ich sehe andere Reisende, die ebenso ungläubig daran ziehen und drücken, in der Hoffnung das letztlich sich wundersam eine Ablage auftut, aufklappt oder mit leisem Surren aus der Wand fährt. Doch nichts davon. Die bittere Realität ist, dass es in diesem Wagon keine Gepäckablage über den Sitzen gibt, etwas das schon wahrscheinlich seit Erfindung der Eisenbahn in jedem seitdem produziertem Wagon vorhanden war. Bis auf diesen...

2.Akt

Wenn man dann nach stundenlanger Fahrt von seinem Platz aufsteht und sich kurz die Beine vertreten will, kommt die nächste Überraschung. In der Hektik des Einsteigens unbemerkt zeigt sich nun, dass es zwischen dem Eingangsbereich bei der Tür und den Sitzbereichen eine Stufe gibt. Nicht groß, eher klein, so 10 Zentimeter, aber trotzdem oder gerade deswegen sehr leicht zu übersehen, was dazu führt, dass man gerne darüber stolpert und sich mit viel Glück an einem stehenden Reisenden noch festhalten kann, mit weniger Glück direkt lang hinschlägt und vor der Toilettentür zu liegen kommt. Wiederum erschließt sich mir der Sinn dieser Stufe nicht und gerade in einer Zeit, in der Barrierefreiheit in aller Munde ist, erscheint es mir seltsam antiquiert. Ich bemerke jetzt auch Mitreisende, die beim Einsteigen ihr schweren Koffer über diesen Absatz zerren müssen um letztendlich einen Platz zu erreichen, an dem sie das Gepäckstück aufgrund einer fehlenden Ablage nicht richtig deponieren können. Aber ich wiederhole mich jetzt…

3.Akt

Was ich am Zugfahren sehr schätze und deswegen auch gerne mache, ist die permanente Verfügbarkeit einer Toilette. Inzwischen kann ich mich auch kaum mehr über die Sauberkeit beklagen, was, nebenbei bemerkt, bei meiner ersten großen Zugreise von München nach Istanbul spätestens am zweiten Tag ganz anders war, aber das ist eine andere Geschichte.
In diesem Wagon gibt es auch eine Toilette. Sogar eine sehr moderne mit einer großen Tür, direkt neben dem Einstiegsbereich. Die Tür lässt sich nur elektrisch auf Knopfdruck öffnen und ist eine Schiebetür die dann elegant in der Verkleidung verschwindet statt einem Mitreisenden ins Kreuz zu schlagen. Soweit so gut. Weniger gut und durchdacht scheint mir, dass sich die Tür nicht zum Gang, also der Seite des Wagons hin öffnet, sondern zur Wagonmitte, also den Sitzreihen hin. Was den Effekt hat, dass jedes mal wenn jemand auf die Toilette geht, der gesamte Wagon davon Zeuge wird, solange man nicht gerade in dem Moment aus dem Fenster schaut. Das Ganze wird noch unterstrichen durch die vorher beschriebene Stufe, die dem Ganzen einen theaterhaften Eindruck vermittelt, da die Zuschauer damit einen leicht erhöhten Blick auf das Geschehen haben. Sobald sich die Toilettentür öffnet, die an sich schon riesige Ausmaße hat und die komplette Vorderseite der Toilette dann freigibt, ist zunächst linker Hand ein modernes Waschbecken und, direkt gerade vor einem, die Toilettenschüssel. Spätestens jetzt überlegt man sich, ob man nicht besser dezent aus dem Fenster schauen sollte, doch wann bekommt man schon einmal einen so direkten und schonungslosen Einblick in menschliche Grundbedürfnisse? Im folgenden nächsten Akt dieser Vorführung zeigt sich eine weitere Besonderheit dieses nicht so stillen Örtchens: Die Tür lasst sich nicht schließen. Zumindest nicht manuell. Man muss abwarten, bis die vom Programmierer der Türautomatik vorgegebene Zeit abgelaufen ist und die Tür sich wieder mit einem leisen Zischen, der Aufzugtür im Raumschiff Enterprise nicht unähnlich, wieder schließt. Aus einem undefinierbaren Grund war der Entwickler der Meinung, man braucht eine halbe Minute um über die Türschwelle zu treten und dementsprechend lange bleibt die Tür offen. Dem armen Wicht, der sich jetzt sicher lieber schnell erleichtern würde als ein Hauptdarsteller in einem Drama zu sein, bleibt nichts anderes übrig, als unter den interessierten Augen aller Mitreisenden geduldig zu warten bis die sich schließende Tür dem Trauerspiel ein Ende bereitet.

4.Akt

Denkt man. Falsch gedacht. Wenn man glaubt, es gibt keine Steigerung mehr, auch falsch gedacht. Trotz der elektrisch betätigten Tür muss man nämlich von Innen die Tür manuell verriegeln, Das ist leider nicht sehr offensichtlich, weil sich auch da der Produktdesigner einen schön aussehenden, aber in der Funktion eher schwierig zuzuordnenden Hebel ausgedacht hat. Gerade ältere Menschen, die schon vom Öffnen der Tür und dem nicht vorhandenem Knopf zum Schließen leicht überfordert waren, vergessen diese Verriegelung gerne oder verlassen sich schlicht auf die so intelligent wirkende Toilette, dass sie es schon selbst merkt und anzeigt, wenn sie besetzt ist. Leider wiederum falsch. Solange die manuelle Verriegelung nicht betätigt ist, leuchtet außen ein grünes Licht, das den freien Zugang zum Klo anzeigt. Was als nächstes passiert, kann man sich mit ein wenig Fantasie selbst ausmalen. Für diejenigen, die das nicht können, beschreibe ich es gerne.
Aufgefordert durch das grüne Licht, betritt der nächste Akteur in diesem Stück die Bühne. Nach einen beherztem Druck auf den Knopf öffnet sich die Toilettentür mit leisem Zischen und gibt den Blick auf den kompletten Innenraum frei. Etwas überrascht und irritiert sieht man den armen Kerl auf der Schüssel sitzen und ungläubig die sich öffnende Tür fixieren.
Wäre das in jedem anderen Wagon durch einen beherzten Schlag von innen gegen die Tür ein leicht lösbares Problem gewesen, was auch durch die kleinere Tür und Ausrichtung zum Gang hin eine Angelegenheit zwischen den beiden Hauptdarstellern bliebe, kommt es hier zum ganz großen Theater. Unter den Augen aller Mitreisenden versucht der zweite Hauptdarsteller, sich schlagartig bewusst werdend was er angerichtet hat, die Situation zu retten und drückt reflexartig ein zweites Mal auf den Knopf in der vergeblichen Hoffnung, dass die Tür sich schnell schließt und die peinliche Situation gnädig beendet. Leider hat der gutmeinende Konstrukteur der Anlage etwas dagegen, da mit dem erneuten Druck auf den Knopf offensichtlich die Zeit neu zu zählen beginnt, wie lange die Tür geöffnet bleibt, und dadurch die Situation nur noch unnötig verlängert wird.
Schließlich hat die Elektronik ein Erbarmen, die Tür schließt sich, und jeder im Wagon überlegt jetzt zweimal, ob er wirklich so dringend auf die Toilette muss oder ob das nicht noch besser bis zum nächsten Bahnhof warten kann. Ich zumindest, grundsätzlich misstrauisch, warte geduldig und verbringe die verbleibende Zeit bis zum Endhalt mit konzentriert aus dem Fenster starren in der Hoffnung, einem weiteren derartigen Schauspiel dadurch zu entgehen.

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