© Esra Rotthoff

 

 

Der Idealismus ist verloren gegangen

Die sich an keine moralische Maxime haltende, in Auflösung begriffene Familie scheint die Zustände im damaligen Russland wiederzuspiegeln. Was die Familie im Kleinen ist, ist das Zarenreich im Großen - ist nicht eine Sippschaft die Keimzelle des Staates? Im vorrevolutionären Russland herrschen alles andere als geordnete Verhältnisse, die rebellischen Kräfte des Untergrunds formieren sich bereits, stets eine umfassende Umwälzung im Visier. Iwan (Dimitrij Schaad) gehört noch zum alten Schlag, ist ein Patriarch reinsten Wassers und behauptet seine familiäre Vorherrschaft mit repressiven Mitteln. Die 20-jährige Ljubow (Lea Draeger) hat er in einem durch Alkohol motivierten Wutanfall die Treppe heruntergeworfen, seitdem ist sie ein Krüppel und frisst eventuelle Rachegedanken in sich hinein. Nun sollte man annehmen, dass bei einem solchen Negativ-Vorbild edle Gemüter zustandekommen, um "alles" anders zu machen. Aber der Nachwuchs ist ein Lotterhaufen, auf den der Papa längst abgefärbt hat: Egoismen und Skrupellosigkeit dominieren. Besonders gerissen scheint Nadeshda (Mareike Beykirch) zu sein, die grob und flüchtig geschminkt aussieht, als habe sie sich für eine "dekadente" Unterground-Party zurechtgemacht. Lediglich Aram Tafreshians Pjotr zeigt etwas Idealismus, und auch Mitgefühl für einen verhafteten Revolutionär, der angeblich auf seinen Vater geschossen hat. Doch statt dem Lebensrausch ergibt sich Pjotr dem Rausch. Und Vera (Vidina Popov) wird von einem Polizisten vergewaltigt und begibt sich in eine Zwangsehe, an der ihr Vater ganz gut verdient.

 

Härte statt Einfühlungsvermögen

Dimitrij Schaad spielt seinen Iwan ohne rigorose Härte im Ton. Aber Überheblichkeit und Machtanspruch und Sarkasmus kommen auch so zur Geltung. Der Ex-Polizeichef, der wegen unnötiger Brutalität seiner Untergebenen entlassen wurde, verhält sich daheim wie bei den rücksichtslosen zaristischen Ordnungshütern. Strenge und Härte statt Einfühlungsvermögen, und man fragt sich, warum Gorki keine positive Gegenfigur eingebaut hat. Die Kinder sind im Grunde eine Fortsetzung der Rohheit des Erzeugers, die Mutter Sofja erkennt zu spät, dass sie sich jahrelang zur Komplizin gemacht hat. Es ist ein ernstes Thema, leider beansprucht, ja strapaziert Regisseur Dömötör zu sehr das Komödiantische – dadurch wird vieles entschärft. Zuweilen geht es zu wie bei einem aus dem Ruder gelaufenen Kindergeburtstag, bei dem das Spielzeug demoliert wird. Permanent ist der nervige menschengroße Teddybär auf der Bühne und wird dann halb zerstört, und die erwachsenen Kinder hüpfen herum in Schlafanzügen. Till Wonkas Alexander rückt in die Nähe des Grenzdebilen. Alle sind irgendwie Abziehbilder einer innerfamilären Zersetzung, aus der es keine Flucht zu geben scheint. Niemand wagt auszubrechen – immerhin kann der Über-Vater den Laden noch zusammenhalten. So muss man leider über die Inszenierung sagen: Eine vergebene Chance. Wenn die Familie wirklich ein Abbild der damaligen russischen Gesellschaft sein soll, lässt sich sagen, dass das, was dann eintrat, so kommen musste.

 

Die Letzten
von Maxim Gorki
Deutsch von Werner Buhss
Regie: András Dömötör, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Amit Epstein, Musik & Musikalische Einrichtung: Tamás Matkó, Dramaturgie: Holger Kuhla.
Mit: Lea Draeger, Ruth Reinecke, Dimitrij Schaad, Till Wonka, Vidina Popov, Mareike Beykirch, Knut Berger, Aram Tafreshian.

Gorki Theater Berlin, Premiere vom 15. Juni 2018
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

 

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