Wahre Begebenheiten – wirklich?

Bei langen Unterhaltungen in geselliger Runde kommt es oft unweigerlich zu sensationellen Erzählungen folgender Machart: "Mein Schwager hat in Berlin oder so einen Kumpel. Dessen Frau arbeitet bei irgendeiner Behörde. Weißt du, was dort letztens passiert ist?" Was sich dann anschließt, sind "Tatsachenberichte" wie die eingangs erwähnte (frei erfundene) Episode. Derartige Geschichten weisen stets ganz bestimmte Merkmale auf:

  • Der Erzähler ist von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt, ohne selbst dabei gewesen zu sein.
  • Ein angeblicher Augenzeuge kann meist nur vage benannt werden, beispielsweise der Tierarzt des Schäferhundes eines Freundes eines ehemaligen Kollegen.
  • Die Geschichten klingen interessant und logisch genug, um trotz der enthaltenen Unglaublichkeiten wahr zu sein und bleiben deshalb als vermeintlich reales Geschehen immer weiter im Umlauf.

Urban Legends: Eine neue Gattung der Wissenschaft

Mittlerweile ist die Anzahl solcher sagenhaften Berichte derartig gestiegen, dass sich dafür allgemein der Begriff Urban Legends herausgebildet hat. Im deutschsprachigen Raum spricht man auch von Großstadtlegenden oder modernen Sagen. Die Erforschung dieses Phänomens populärer Mundpropaganda gilt in den USA seit einigen Jahren sogar als neue Gattung der Wissenschaft!

Großstadtlegenden erfüllen trotz der heutigen Informationmenge die Funktion moderner Märchen. So, wie in früheren Jahrhunderten Märchen durch Humor, Angst und moralische Effekte vor allem belehren und unterhalten sollten, befriedigen auch Großstadtlegenden die Gier der Menschen nach Wissen, Sicherheit und Unterhaltung. Die Vielzahl moderner Informationsmöglichkeiten wirkt sich dabei keineswegs hinderlich aus. Im Gegenteil: Computer, Telefon und Fernseher tragen eher noch zur umfassenderen Verbreitung dieser neuen Märchen bei. Weil es zudem für den Einzelnen inzwischen unmöglich geworden ist, mit dem rasanten Tempo der wissenschaftlichen und medialen Datenflut Schritt zu halten, werden unglaubliche Geschichten eher für wahr gehalten. Der Modernisierungsglaube begünstigt in diesem Fall also sogar die Legendenbildung.

Populäre Irrtümer

Neben sensationellen Geschichten zählt man zu den Großstadtlegenden auch populäre Irrtümer, von deren Wahrheitsgehalt die meisten Menschen überzeugt sind. Dazu gehört beispielsweise das "Wissen" um die mittelalterlichen Keuschheitsgürtel. Angeblich wurden diese von adligen Damen getragen, um bei Abwesenheit der Gatten die eheliche Treue sowie den Schutz vor Vergewaltigung zu gewährleisten. Entsprechende Ausstellungsstücke in diversen Burg-Museen scheinen dies zu bestätigen. Fakt ist jedoch, dass derartige Exponate meist erst im 19. Jahrhundert entstanden, als noch völlig abstruse Ansichten über das Mittelalter vorherrschten. Ähnlich verhält es sich mit der sogenannten Eisernen Jungfrau, einem angeblichen Folter- und Hinrichtungsgerät. Zu den populären Irrtümern unter den Urban Legends gehören jedoch auch harmlosere Geschichten. So sind unter anderem viele Menschen bis heute der Meinung, dass der Notruf SOS die Abkürzung für "Save our Souls" sei. Die Wahrheit ist dagegen wesentlich banaler: Das Signal SOS (ohne Pausen dreimal lang, dreimal kurz, dreimal lang) wurde für den Notruf gewählt, weil es eine besonders leicht erkennbare Morse-Kombination darstellt...

Mystische Großstadtlegenden

Andere Großstadtlegenden faszinieren vor allem durch mystische oder paranormale Attribute. Dadurch brachten es in den 1990er Jahren die angeblich von Ufos verursachten Kornkreise zu erheblicher Popularität. Zur Legendenbildung besonders geeignet scheinen auch berühmte Zeitgenossen zu sein, mit deren Tod sich die Nachwelt nicht abfinden konnte. Immer wieder kam es vor, dass jemand Elvis Presley oder Adolf Hitler noch Jahre nach deren Ableben gesehen haben wollte. Dem ehemaligen Beatles-Mitglied Paul McCartney wiederum wird bis heute genau das Gegenteil nachgesagt. Verschwörungstheoretiker glauben, dass der Musiker bereits in den 1960er Jahren verstarb und seitdem durch einen Doppelgänger ersetzt wird.

Ein beliebtes Motiv für mystische Großstadtlegenden sind auch die zahlreichen Geschichten um den seltsamen Tramper, welcher plötzlich aus einem fahrenden Auto verschwand. Entsprechend variiert, gehört diese Erzählung weltweit zu den lokalen Sagen. Zu Beginn der 1980er Jahre beschäftigten sich in der Schweiz sogar die Zeitungen mit diesem Thema, denn gleich mehrfach hatten schockierte Autofahrer von der sogenannten Tunnelfrau berichtet: Eine unnatürlich blasse Anhalterin habe sich in einem bestimmten Autobahntunnel auf unerklärliche Weise gleichsam in Luft aufgelöst.

Zum regelrechten Hit unter den modernen Sagen wurde auch eine weitere Autofahrer-Erzählung: "Ein betrunkener Mann erwacht morgens hinter dem Steuer seines Wagens. Auf der Motorhaube erkennt er zu seinem Entsetzen die Leiche eines überfahrenen Mädchens!" Diese Großstadtlegende ist zwar nicht wirklich mystisch. Doch sie kann dafür wenigstens mit einer ganz und gar nicht legendenhaften Moral punkten: Fahre niemals alkoholisiert ...

Donky, am 11.12.2016
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