Der Brunnen als Sammelplatz

Der Brunnen als Sammelplatz (Bild: © HL Böhme)

© HL Böhme

 

Gruppen, gemütliche Flaneure und hektische Passanten

Handke ließ sich in einem Gespräch mit André Müller, so das Programmheft, folgendermaßen vernehmen: "Sprache ist ja in aller Regel zerstörerisch. Wenn sie nicht den richtigen Augenblick findet, zerstört sie das Ungesagte." Der Regisseur Alexander Nerlich, die Uraufführung Peymanns 1992 in der Burg aufgreifend, hat dieses Problem von vornherein weggewischt, ganz in Handkes Interesse (der öfters mal sprachlich danebengelangt hat). Und Nerlich beginnt mit seinem Bühnenbild (Wolfgang Menardi) geradezu extravagant. In der Mitte steht ein schwarzer Brunnen, darauf eine Art Empore, die nach gehobenem Kunstgewerbe aussieht und an einen ornamentenreichen Groß-Kerzenständer erinnert. Oben, auf der Plattform, eine Frau ganz in Schwarz, gelegentlich theatralische Bewegungen vollführend. Ein Messias, ein Pionier, eine Volksverführerin? Der denkmalartige Bau, in einem magischen Kreis hineingestellt, ist zunächst verhüllt. Dann wird er ausgepackt wie ein öffentliches Geschenk bei der Einweihung. Rechts und links ein Arrangement langer, beträchtlich ausgestatteter Kleiderständer für den schnellen Wechsel. Die Gruppenbildungen der Akteur*innen gemahnen an spezifische Techniken von Herbert Fritsch. Der Ort ist ein lebendiger Platz in einer Metropole, wo sich gemütliche Flaneure, hastige Passanten und Frauen mit Einkaufstüten treffen. Sie prallen aufeinander, gehen aneinander vorbei. In seltenen Fällen kommt ein komplizenhaftes Einverständnis zustande.

 

© HL Böhme

 

Epochen überlappen sich

Es ist, als ob die Welt lediglich aus bunten, zuweilen schrägen Vögeln besteht. Zwei Männer mit Hüten fesseln jemanden. Ein Rastafari tanzt im Slip. Eine Frau legt einen Teppich, der aussieht, als würde er nach ranzigem Fett riechen, auf einen mit Müll beladenen Einkaufswagen. Zwei Männer sind durch eine überlange Krawatte verbunden, es kommt zum Streit, zum Biss und zur Versöhnung. Ein Kollektiv schreibt etwas ins Handy. Bei einer Person piept es ständig. Reisende mit Koffern ziehen vorüber. Ein Mann, auf einer rollbaren Mini-Karre sitzend mit einer Perücke nach Ludwig 14., hat vor sich zwei männliche Zugpferde. Eine Ansammlung Adliger, auf dem Weg zu einem bizarren Kostümfest, rauscht vorüber. Es wir gesteppt und getanzt, was das Zeug hält. Wir mäandern durch die Geschichte, beinahe prähistorische Fellachen tauchen auf, altertümliche Römer, Griechen und Araber. Und es gibt ein Art Bücherverbrennung, bei der vermutlich verbotene Schriftstücke in den Brunnen geworfen werden.- All das sind kleine Geschichten, die die Phantasie inspirieren und ins Uferlose treiben. Geschichten, die sich ins Innere verlagern und dort weitergesponnen werden. Interpretieren kann man das Meiste beim besten Willen nicht – auch wenn sich Handke das wünschte. Es ist ein ästhetisches Feuerwerk, das da abgebrannt wird. Ganze Epochen überlappen sich, gegenwärtig ist daran gar nichts. Positiv auffällig sind Bernd Geiling, Denia Nironen und Andrea Thelemann. Es ist ein Triumph der absoluten Form, des ästhetischen Rausches – ein alter Dichterwunsch! Allerdings ist diese Form angefüllt mit Formlosigkeit, nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit. Wie gesagt, fürs Auge eine wunderschöne Sache. Alexander Nerlich hat Glück, dass er in der für ihn richtigen Zeit lebt. In der DDR-Rezeption wäre er wegen Formalismus gebrandmarkt worden.

 

Die Stunde da wir nichts voneinander wussten

von Peter Handke

Regie: Alexander Nerlich, Bühne: Wolfgang Menardi, Kostüme: Amit Epstein, Musik und Sounddesign: Malte Preuß, Choreografie: Anja Kożik, Dramaturgie: Helge Hübner.

Es spielen: Denia Nironen, Bernd Geiling, Eddie Irle, Michael Schrodt, Moritz von Treuenfels, Andrea Thelemann, Juliane Götz, Vera Köppern, Raha Nejad, Hong Nguyen Thai, René Schwittay, Rita Feldmeier.

Hans Otto Theater Potsdam, Premiere vom 9. Juni 2017

Dauer: 80 Minuten


 

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