Lernen im Alter –natürlich, gehirngerecht, würdevoll
Was bedeutet Bildung im Alter, wenn es nicht ums Belehren geht, sondern ums gemeinsame Denken? Eine Journalistin erkundet, wie Würde, Resonanz und gehirngerechtes Lernen zusammenfinden.Lernfähigkeit im Alter wird oft gesellschaftlich unterschätzt
Die Vorstellung, dass geistige Fähigkeiten im Alter zwangsläufig abnehmen, hält sich hartnäckig im kollektiven Bewusstsein, obwohl sie wissenschaftlich längst widerlegt wurde. Professor Dr. Christian Gaser, Neurowissenschaftler und Direktor des Universitätsklinikums Jena, hat mit der Vallecas-Studie über 1000 Menschen im Alter von 80 Jahren und älter untersucht, um frühe Anzeichen kognitiver Beeinträchtigungen zu identifizieren.
Demnach verändern sich bestimmte Prozesse, die mit Denken, Erinnern und Wahrnehmen verbunden sind, etwa die Verarbeitungsgeschwindigkeit oder das Kurzzeitgedächtnis. Doch das Gehirn bleibt ein Leben lang lernfähig, anpassungsbereit und wach.
Was sich verändert, so der Experte, ist nicht die Fähigkeit zu lernen, sondern die Art, wie wir lernen. Ältere Menschen verfügen über ein reiches Erfahrungswissen, über ausgeprägte Mustererkennung und über die Fähigkeit, neue Informationen in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen.
Die Neurobiologie spricht hier von "neuronaler Plastizität", der Fähigkeit des Gehirns, sich durch Nutzung zu verändern. Diese Plastizität bleibt erhalten, solange das Gehirn aktiv gefordert wird, durch Neugier, Kommunikation, Bewegung und sinnvolle Aufgaben.
Fehlannahmen über einen geistigen Abbau führen jedoch häufig zu pädagogischen Fehlentscheidungen: Inhalte auf Webseiten oder in Broschüren für Senior:innen werden, so zeigt die Erfahrung, vereinfacht statt vertieft angeboten. Lernende werden belehrt statt beteiligt. Die Möglichkeit, Fehler zu erkennen und daraus zu lernen, wird vermieden statt genutzt.
Der Effekt verpufft: Methoden, die auf Selbststeuerung, Bedeutung und emotionaler Beteiligung beruhen, erreichen ältere Lernende oft nicht, obwohl sie gerade für diese Zielgruppe besonders wirksam wären.
Die Erfahrung zeigt: Der Großteil der älteren Bevölkerung braucht im Alltag keine pädagogische Schonung, sondern Resonanz. Resonanz in Tätigkeiten, im Austausch, im Lernen – idealerweise generationenübergreifend. Denn erst im Dialog mit anderen wird sichtbar, wo ältere Menschen mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung hilfreich eingreifen können und wollen.
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Birkenbihl für Senior:innen –Lernen mit Neugier und Bedeutung
Vera F. Birkenbihl entwickelte Lernmethoden, die nicht auf Drill oder Belehrung setzen, sondern auf Neugier, Bedeutung und Selbststeuerung. Ihre Ansätze sind besonders geeignet für ältere Lernende, nicht trotz, sondern wegen ihrer Lebenserfahrung.
Geboren 1946 in München, gestorben 2011 in Osterholz-Scharmbeck, studierte Birkenbihl Psychologie und Journalismus in den USA. Als Managementtrainerin und Expertin für gehirngerechtes Lernen prägte sie mit ihren Büchern und Lehrvideos eine Generation von Weiterbildner:innen.
Fünf Prinzipien gehirngerechten Lernens –besonders wirksam im Alter
1. Entschlüsselung statt Übersetzung Beim Sprachenlernen wird nicht nach Lautlehre übersetzt, sondern Wort für Wort entschlüsselt. So entsteht ein intuitives Sprachgefühl. Ältere Lernende profitieren davon, weil sie Bedeutungen erfassen wollen – nicht Regeln pauken.
2. KaWa-Technik –spielerisch verknüpfen Begriffe werden zerlegt und mit bekannten Bildern oder Lauten verknüpft. Das aktiviert das Langzeitgedächtnis und fördert kreative Verbindungen – besonders bei Menschen mit reichhaltigem Erfahrungswissen.
3. Fehlerfreundlichkeit als Lernprinzip Fehler gelten nicht als Makel, sondern als Lernquelle. Das entlastet ältere Lernende, die oft unter dem Druck stehen, "noch mitkommen" zu müssen.
4. Lernen durch Neugier und Bedeutung Das Gehirn lernt am besten, wenn es interessiert ist. Für ältere Menschen heißt das: Inhalte müssen persönlich, gesellschaftlich und emotional relevant sein.
5. Wiederholung mit Variation Statt mechanischer Wiederholung setzt Birkenbihl auf Vielfalt: Perspektivwechsel, Humor, Geschichten. Das entspricht der Art, wie ältere Menschen Wissen verankern, nicht linear, sondern vernetzt.
Diese Methoden sind keine "Seniorentechniken". Sie entfalten gerade im späteren Leben ihre volle Wirkung. Sie respektieren die Lernenden als denkende, fühlende, erfahrene Menschen – und zeigen: Lernen im Alter ist nicht Defizitbewältigung, sondern Potenzialentfaltung.
Bildungsformate für ältere Lernende sind Teilhabe mit Tiefe
Wenn Lernen im Alter als Potenzial verstanden wird, braucht es Formate, nicht als Freizeitbeschäftigung, sondern als ernsthafte, würdige Bildungsarbeit mit Raum für Erfahrung, Austausch und Selbststeuerung, die diesem Anspruch gerecht werden.
Präsenzformate mit Nähe, Resonanz und Gemeinschaft
Seminare vor Ort bieten älteren Lernenden etwas, das digitale Räume nur schwer ersetzen können: persönliche Begegnung mit Gleichgesinnten und Lehrkräften, spontane Gespräche, nonverbale Kommunikation.
Mimik, Gestik, Körperhaltung und Blickkontakt helfen, Emotionen und Haltungen auszudrücken und zu verstärken.
Diese Formate eignen sich besonders für Themen mit emotionaler Beteiligung: biografisches Schreiben, philosophische Reflexion oder kreative Spracharbeit.
Gerade diese Fähigkeiten verändern sich im Generationenwechsel, sie verarmen oder vertiefen sich, je nach Resonanzraum.
Digitale Bildungsformate: Lernen im eigenen Tempo
Onlineangebote ermöglichen vielen Menschen überhaupt erst die Teilhabe am Lernen, etwa jenen, mit eingeschränkter Mobilität oder in ländlichen Regionen.
Sie bieten flexible Lernmöglichkeiten, die sich gut mit individuellen Lebensrhythmen vereinbaren lassen.
Typische Elemente digitaler Formate:
- Lernvideos mit Entschlüsselungstechnik
- Interaktive KaWa-Übungen
- Digitale Lerntagebücher
- Moderierte Austauschforen
Gestaltungsprinzipien für digitale Angebote:
- Klare Struktur statt technischer Überforderung
- Kleine Einheiten statt langer Sitzungen
- Persönliche Ansprache statt anonymer Plattformen
Digitale Formate sind kein Ersatz für Präsenzunterricht hingegen eine wertvolle Ergänzung.
Sie ermöglichen selbstbestimmtes Lernen und eröffnen neue Räume für Austausch und Vertiefung.
Lernen im Alter ist demnach wie ein Garten im Spätsommer: Nicht weniger lebendig, sondern tiefer verwurzelt, reicher an Farben, offener für leise Veränderungen. Wer zuhört, erkennt: Die Ernte ist noch lange nicht vorbei.
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Das Beste aus beiden Welten –online und präsent- vereint
Hybride Bildungsformate verbinden Präsenz und Online sinnvoll miteinander.
Sie reduzieren Anreisewege und erweitern die Teilnahmemöglichkeiten – besonders dann, wenn es schwierig ist, Gruppen vor Ort zusammenzubringen.
Typische Kombinationen:
- Einstieg vor Ort, gefolgt von digitalen Vertiefungen
- Online-Vorbereitung mit Präsenzabschluss
- Präsenzunterricht begleitet durch digitale Materialien
Damit hybride Formate gelingen, braucht es mehr als Technik:
- eine gute technische Ausstattung
- einfühlsame Lehrkräfte
- eine kluge Vorauswahl, die unterschiedliche digitale Kompetenzen berücksichtigt
Hybride Bildungsangebote sind keine Kompromisslösung, sondern eine Chance, das Beste aus beiden Welten zu vereinen: Nähe und Flexibilität, Resonanz und Selbststeuerung.
Wenn Bildung Brücken baut, dann sind hybride Formate ihre tragenden Pfeiler. Sie verbinden Orte und Zeiten, Menschen und Möglichkeiten und schaffen Räume, in denen Lernen nicht nur stattfindet, sondern wirkt. Für ältere Lernende heißt das: Die Welt wird weiter, nicht kleiner.
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Mitgestaltung –ältere Lernende als aktive Bildungsakteure
Diese Formate sind keine fertigen Produkte, sondern Einladungen zur Mitgestaltung.
Ältere Lernende sind nicht nur Zielgruppe, sondern Mitdenkende.
Sie bringen Lebenserfahrung, Haltung und Fragen mit und verdienen Bildungsangebote, die darauf aufbauen.
Eine persönliche Standortbestimmung, was ich mit diesem Wissen anfangen will
Dieser Artikel ist zum Beispiel kein fertiges Konzept. Er ist ein Denkraum.
Ein Versuch, meine langjährigen Überlegungen zu bündeln und herauszufinden, was ich selbst mit diesem Wissen anfangen will.
Ich bin Journalistin. Ich arbeite selbstständig, oft unter Zeitdruck, oft im Dienst anderer Themen.
Doch gerade deshalb weiß ich, wie kostbar jene Inhalte sind, die nicht nur informieren, sondern bewegen.
Die Idee, dass man auf natürlichem Weg nicht dümmer wird, begleitet mich seit Langem.
Sie ist keine bloße These, sie ist meine innere Überzeugung.
Sie verbindet neuropsychologische Erkenntnisse mit einem ethischen Anspruch:
Dass Bildung im Alter nicht als Defizitverwaltung gedacht werden darf, sondern als Einladung zur Teilhabe, zur Würde, zur Selbstwirksamkeit.
Ich sehe mich nicht als Anbieterin fertiger Lösungen.
Aber ich sehe mich als Autorin, die Impulse geben kann.
Als Konzepterin, die Formate mitentwickeln könnte, gemeinsam mit anderen.
Als Mitdenkende, die Räume öffnet, in denen Lernen wieder als menschlicher Prozess sichtbar wird.
Vielleicht entsteht daraus eine Artikelreihe. Vielleicht ein Seminar. Vielleicht ein Netzwerk.
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Monikas letzte Zeile
Zuerst entsteht dieser Text.
Dann darf er reifen.
Und er wird, wenn die Zeit gekommen ist, seinen Weg finden.
Fazit Lernen ist –Würde in Bewegung
Lernen im Alter ist kein Nachholen, kein Aufholen, kein Reparieren und keine Beschämung für die Angehörigen. Es ist ein Ausdruck von Lebendigkeit, von Selbstwirksamkeit, von Würde.
Wer sagt, man könne auf natürlichem Weg nicht dümmer werden, sagt zugleich: Das Gehirn ist kein Speicher, der sich leert, sondern ein Organ, das sich entfaltet. Mit jedem Gedanken, jedem Austausch, jeder Frage. Vera F. Birkenbihl hat gezeigt, wie Lernen gehirngerecht, mit Neugier, Bedeutung und Fehlerfreundlichkeit.gelingen kann Diese Prinzipien sind nicht nur pädagogisch klug, sondern menschlich notwendig. Gerade für ältere Lernende, die nicht belehrt, sondern beteiligt werden wollen.
Dieser Text ist ein Anfang. Er darf reifen, sich wandeln, sich verbinden. Vielleicht wird daraus ein Format, ein Netzwerk, ein Impuls. Vielleicht bleibt er einfach ein Denkraum, für mich, für andere, für das Lernen selbst.
Denn Lernen ist kein Zustand. Es ist Bewegung. Und diese Bewegung hört nie auf.
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(Welcher Zusammenhang besteht zwischen nicht lesen können und Gewalt?)
Monika Hermeling, Journalistin
(Die Auswirkungen des Klimawandels verstehen lernen)



