Lieder von Rammstein: Raum für Interpretation und Mehrdeutigkeit - Teil 1

"Ich habe Pläne große Pläne / Ich baue dir ein Haus” sind erste Anzeichen eines gemeinsamen Plans für die Zukunft. "Jeder Stein ist eine Träne" beschreibt die Hilflosigkeit der Zwangsverlobten an jedem einzelnen Tag bis zur Hochzeit. Da in vielen Ländern eine Scheidung noch als Unsitte gilt ist sie für viele betroffene Frauen keine Alternative. Daher auch "Und du ziehst nie wieder aus". Mit "Ja ich baue ein Häuschen dir" verniedlicht das lyrische Ich die Situation. Anschließend folgt die Realität. "Keine Fenster, keine Tür / Innen wird es dunkel sein / Dringt überhaupt kein Licht hinein" untermauert wortwörtlich die auswegslose Gefangenschaft. Kein Licht, also keine Hoffnung. Es könnte auch auf Verschleierung anspielen, mir reicht aber der erste Ansatz völlig aus. "Ja ich schaffe dir ein Heim / Und du sollst Teil des Ganzen sein” – hier bestätigt das lyrische Ich seine Pläne, dass die Auserwählte fester Besandteil des Zukunftsplans ist.

Der Refrain "Stein um Stein mauer ich dich ein / Stein um Stein / Ich werde immer bei dir sein” fast die Situation noch einmal zusammen und offenbart, dass das lyrische Ich sich der Lage seiner Angebeteten durchaus bewusst ist. "Ohne Kleider ohne Schuh / Siehst du mir bei der Arbeit zu” käme selbst in einem positiven Text durch, weil es als "sich voreinander ausziehen” und "alles für die Liebe tun” verstanden werden kann. Das wäre aber nicht rammsteinisch, meiner Meinung nach. Zieht man die nächsten zwei Zeilen hinzu ("Mit den Füßen im Zement / Verschönerst du das Fundament”) wird etwas deutlicher, dass die unfreiwillig Verheiratete für das lyrische Ich in ihrer natürlichen Schönheit wie ein Souvenir in Besitz verstanden wird. Wie ein Gemälde an der Wand. Füße im Zement als Metapher für Bewegungslosigkeit, die Nacktheit kündigt die Vorbereitung der Hochzeitsnacht an. Mit "Draußen wird ein Garten sein” weist das lyrische Ich auf die Vorzeige-Familie hin, die nach außen hin dargestellt werden soll. Ein Garten dient hier als Symbol für die Wohlstandsidylle dieser Vorzeige-Familie. Wir erinnern uns: Die Image-Wahrung im näheren Umfeld ist in vielen Ländern und Traditionen so eng verwurzelt, dass selbst die Opfer schweigen würden. Fragen stellen würde sowieso kaum jemand, weil er sich mit der gespielten Idylle zufrieden gibt. "Und niemand hört dich schreien” unterstreicht das ebenso wie einen unterdrückten Hilfeschrei.

Als musikalischer Höhepunkt folgt der letzte Teil: Die Hochzeitsnacht, die die Ehe besiegeln wird. "Welch ein Klopfen welch ein Hämmern" ist hier allerdings nicht sexuell zu verstehen, sondern mit dem Herzklopfen. Beim lyrischen Ich pocht das Herz vor Erregung, bei seinem Gegenüber wohl eher vor Angst, denn die Nacht rückt näher: "Draußen fängt es an zu dämmern". Mit der Zeile "Alle Nägel stehen stramm" wird die Spannung umschrieben, kurz bevor es passiert. Wobei den Herren Rammstein durchaus zuzutrauen ist, dass "stramm" auch für das erfreute Geschlechtsteil des Mannes stehen könnte. So oder so bleibt klar, dass alles unter Zwang stattfinden wird, weshalb die Zeile "Wenn ich sie in dein Leibholz Ramm – stein” auch so hart klingt. Die Nägel symbolisieren den Akt, der beide für immer aneinander bindet. Doch in der letzten Zeile steckt noch mehr: Leibhölzer werden zum Schiffsbau benötigt, heutzutage meist nur noch um das Holzdeck zu umsäumen, um freiliegende Hirnholzflächen und dadurch eintretendes Wasser zu verhindern. Wieder wird darauf angespielt, dass von außen nichts mehr die Lage ändern wird. Das Schiff ist gebaut und kann in den Hafen der Ehe schippern, was widerum zum Albumtitel "Reise, Reise" passt. Das Wortspiel am Ende, wo Sänger Till Lindemann noch ein "–stein" hinterherbrüllt ist grandios. Als wolle er damit deutlich machen "Wir singen hier kein positives Lied, von keiner schönen Ehe. Aber auch nicht vom stumpfen Einmauern. Wir singen von einer auswegslosen Situation aus dem Alltag vieler trauriger Seelen in der heutigen Gesellschaft." Das ist Rammstein.