Obdachlosigkeit: Das verdrängte Problem
Über Klischees und den unehrlichen Umgang mit einem Tabu-ThemaDie bösen Klischees
"Niemand muss obdachlos sein. Es gibt ein Sozialsystem"
Die junge Frau hatte rund ein Jahrzehnt lang in der Industrie im Schichtbetrieb geschuftet. Dann schulte sie auf einen Beruf im Sozialsektor um, in dem ja Fachkräfte dringend benötigt wurden. Sie absolvierte eine Ausbildung, für die es keine Vergütung gab. Im Prinzip hatte sie alles so gemacht, wie es Staat und Wirtschaft forderten. Mit dem Ende der Ausbildung wurde sie allerdings schwanger, was ein Beschäftigungsverbot nach sich zog. Jetzt zeigte sich, wie große Maschen das soziale Netz haben kann. Da sie durch ihre Ausbildung mehr als sechs Monate nicht in die Sozialsysteme eingezahlt hatte, standen ihr keine Leistungen zu: Kein Bürgergeld und schon gar keine Arbeitslosenhilfe. Stattdessen forderte das Sozialsystem von ihr sogar monatlich Zahlungen in die Krankenversicherung, trotz fehlenden Einkommens. Ohne Unterstützung aus ihrem Umfeld wäre sie genau dort gelandet, wo man angeblich in unserem Sozialstaat nicht unverschuldet hingelangen kann: auf der Straße. Dieses kleine Beispiel zeigt, wie schnell der Absturz jedem passieren kann.
"Alles Penner – alkoholabhängig, drogensüchtig, zu faul zum Arbeiten"
Es ist nicht verwunderlich, dass Obdachlosigkeit und offensichtliche Verwahrlosung oft in einem Atemzug genannt werden. Immerhin sind die einzigen sichtbar Obdachlosen ja diejenigen, die eben in den Fußgängerzonen und Bahnhofsvierteln herumlungern. Doch Obdachlosigkeit beginnt nicht erst, wenn sie sichtbar wird. Wer davon betroffen ist, tut zunächst alles, um den Schein zu wahren und eben nicht auf der Straße zu landen: Häufig wechselnde Kurzzeit-Unterkünfte bei Bekannten, Schlafplätze in Bahnhofsmissionen, in anderen mildtätigen Einrichtungen oder Übernachtungen am Arbeitsplatz. Ja, tatsächlich sind obdachlose Menschen nicht automatisch auch arbeitslos.
"Bandenmäßiges Betteln – am Abend steigen die in ihren um die Ecke geparkten Mercedes"
Einer Betrugsmasche aufzusitzen, ist eine Urangst der als spendenfreudig geltenden Deutschen. Wer spendet, will wissen, dass sein Geld tatsächlich ankommt. Vielleicht deshalb haben die Geschichten von organisierten Bettlerbanden aus Südosteuropa Hochkonjunktur. In Internetforen und auf Social Media wird davor gewarnt, wobei von denen die das teilen, liken und schreiben, vermutlich die wenigsten so etwas real einmal beobachtet haben.
Ohne Frage, solche Erscheinungen gibt es. Deshalb aber jeden Bedürftigen unter Generalverdacht zu stellen, ist vielleicht doch etwas überzogen. In der Regel gibt es ein einfaches Mittel, Betrugsversuche weitgehend auszuschließen: Wer unsicher ist, sollte nicht Geld spenden, sondern schlichtweg fragen, was der oder die Betreffende möchte. Meist sind die Wünsche eher überschaubar: Ein Snack, ein Getränk, eine Mütze… Professionelle Bettlerbanden würden sich mit so etwas nicht abgeben.
Die Klischees der Gutmenschen
"Ich spendiere dem armen Kerl einen Kaffee – das belebt und wärmt"
Was ist, wenn der arme Kerl schlichtweg keinen Kaffee mag oder ihn nicht verträgt, zum Beispiel wegen Herzproblemen oder Bluthochdruck? Hinzu kommt: Tatsächlich mag es zwar gut gemeint sein, jemandem etwas zu spendieren. Aber es ist eben auch übergriffig. Obdachlose haben ebenso eine Menschenwürde und ein Recht auf eigene Entscheidungen wie jeder andere Bürger. Wer kein Zuhause hat, hat also auch keine eigene Toilette. Da können ein paar gut gemeint spendierte Getränke bereits ein weiteres Problem auslösen. Die Zeiten, als es frei zugängliche, öffentliche Toiletten gab, sind schließlich längst vorbei.
"Der Staat ist schuld. Er füttert die Reichen und lässt arme Menschen verhungern".
Tatsächlich ist es einfach, für jedes Problem irgendwie den Staat zu beschuldigen. Eine gewisse Partei am rechten Rand tut dies besonders gern und missbraucht soziale Not, um sie gegen andere, ihr nicht genehme, Staatsausgaben auszuspielen. Das ist herabwürdigend gegenüber den Leuten, die man vorgeblich unterstützen will. Es sind halt immer die Pflaumen, die Äpfel mit Birnen vergleichen…
Tatsächlich ist erst einmal jeder für sich selbst verantwortlich. Erst wer dabei scheitert, erhält Hilfe von der Gemeinschaft der Mitmenschen. Das bedeutet aber auch, dass man eben die Gesellschaft als Ganzes wirtschaftlich so stärken muss, dass sie ihren schwächsten Mitgliedern auch helfen kann. Umverteilungsfantasien helfen dabei herzlich wenig. Jeder ist also aufgerufen, sein Bestes zu geben, die Leistungsträger ebenso wie die, denen es gerade nicht so gut geht.
Interessanterweise zielen auch die Parteien des linken Spektrums mit ihren Anträgen und Parlamentsdebatten selten bis gar nicht auf die Bedürftigsten, sondern eher auf solche Bevölkerungsschichten, die sich ganz gut eingerichtet haben im Sozial- und Fördermittelstaat. Mit echter Mitmenschlichkeit hat das herzlich wenig zu tun.
Wie helfen?
Wie bereits erwähnt, ist ein Nachfragen, was eigentlich gebraucht wird, der erste Schritt in Richtung Respekt und beweist Mitmenschlichkeit sowie echtes Interesse. Dazu muss man sich natürlich erst einmal auf ein Gespräch mit Menschen einlassen, über die andere die Nase rümpfen – und plötzlich ist man selbst einer, den die Leute komisch anschauen. Ein klein wenig weiß man danach, wie sich sichtbar Obdachlose den ganzen Tag fühlen dürften.
Wer helfen möchte, in seinem Alltag aber keinem Obdachlosen begegnet oder einfach anonym etwas beitragen will, kann dies über Spenden an entsprechende Initiativen tun: Heilsarmee, kommunale Wärmebusse, Suppenküchen und ähnliche Einrichtungen freuen sich über jeden, der finanziell oder durch praktische Mithilfe Unterstützung leistet.
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Obdachlose sind Menschen wie du und ich. Sie sind ebenso wenig eine homogene Masse wie Mieter oder Hausbesitzer. Ihre Geschichten und Schicksale unterscheiden sich genauso wie die Lebensläufe anderer Menschen. Vermutlich sind wir ihnen schon häufiger begegnet als wir denken. Und auch die sichtbar Obdachlosen auf den Straßen und Plätzen verdienen einen respektvollen Umgang. Wir kennen ihren Leidensweg nicht. Keiner von uns sollte glauben, dass ihn dieses Los nie treffen könnte. Abgesehen davon ist es ziemlich gleichgültig, ob ein Obdachloser sein Schicksal selbst verschuldet hat. Keiner verdient so ein Schicksal. Bevor wir deshalb unsere Fähigkeiten, unsere Intelligenz und unser Geld vorrangig in Klima- und Genderdebatten, sinnfreie Online-Diskussionen oder das neueste Smartphone stecken, sollten wir vielleicht alles dafür tun, dass niemand auf der Straße leben muss und dass in unserem Wirtschaftssystem jeder die Möglichkeit hat, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.






