Offen schwul sein – Bedingungen für ein gutes Coming out
Offen schwul leben ist für viele auch heute noch problematisch. Für ein gelingendes Coming-out braucht es bestimmte Bedingungen.Zur eigenen Homosexualität stehen - Vom inneren und äußeren Coming-out
Unsere Gesellschaft hält sich für modern, weltoffen und tolerant. In vielen Bereichen mag sie dies sein. Wenn es aber um Homosexualität geht, scheint von Modernität, Weltoffenheit und Toleranz nicht mehr viel vorhanden zu sein. Deshalb scheuen sich viele Homosexuelle, sich öffentlich zu outen. Sie fürchten sich noch immer aus gutem Grund vor den Reaktionen derer, die ihren Weg tagtäglich kreuzen, nämlich die eigene Familie, Nachbarn, Mitschüler oder Arbeitskollegen. Welche Bedingungen braucht es, damit Homosexuelle ohne Angst zu ihrer Sexualität stehen können?
Abkehr von überholten Moralvorstellungen
In Deutschland und den meisten europäischen Staaten ist die Gesellschaft zutiefst vom christlichen Glauben geprägt. Über Jahrhunderte hinweg wurde den Menschen eingetrichtert, dass alles, was nicht der christlichen Morallehre entspricht, böse und sündig sei. Der sexuelle Akt durfte bis ins 20. Jahrhundert hinein nur in der gültig geschlossenen Ehe vollzogen werden, Selbstbefriedigung galt als eine Missachtung des eigenen Körpers und schon der pure Gedanke an die "fleischliche Lust" musste in der Beichte offengelegt und natürlich bereut werden.
Auf diese Weise wurde die Sexualität zu einem der wichtigsten Inhalte kirchlicher Seelsorge gemacht dem Menschen eine geradezu exzessive Leibfeindlichkeit antrainiert, die sich bis in unsere Tage gehalten hat. Die sich verändernde Sicht auf das Thema Sexualität, die sich durch die Wissenschaften entwickelte und in die Gesellschaft einfloss, wurden (vor allem von der katholischen Kirche) weder ernsthaft reflektiert und schon gar nicht in neue Handlungsansätze für die Seelsorge übertragen. So ist es kein Wunder, dass die Kirche, und damit ein nicht unwesentlicher Teil der Gesellschaft, das Thema "Sexualität und ihre vielfältigen Ausprägungen" auch heute noch als lästiges Übel ansieht, über welches man am besten den Mantel des Schweigens wirft. Diese Haltung in christlich geprägten Familien erschwert es vor allem Jugendlichen, sich in der Familie als schwul, lesbisch oder transsexuell zu outen.
Akzeptanz gesellschaftlicher Vielfalt
Die sexuelle Revolution in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat bei vielen Menschen die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung geweckt. Es kam zu einer Abkehr von überholten Vorstellungen, wie und mit wem man seine Sexualität leben darf und in der Folge entstand ein ganz neues Bewusstsein des eigenen Körpers. Zudem wurden die bis dahin begrenzten Möglichkeiten, Sexualität zu leben, aufgebrochen und auch Homosexuelle wurden zunehmend selbstbewusst. Trotz des damals noch geltenden Paragrafen 175 setzte man sich immer häufiger mit dem Thema auseinander. Diese neue Offenheit stieß natürlich nicht überall auf Gegenliebe, aber die Konsequenz vieler Aktivisten aus dieser zeit hat zur Verbesserung der Lebensumstände von Schwulen, Lesben und Transgendern beigetragen.
Heute scheint es so, dass die Akzeptanz homosexueller Lebensformen in der Gesellschaft wieder abnehmen würde. Es kommt in den letzten Monaten wieder verstärkt zu Anfeindungen, die politisch Verantwortlichen weigern sich beharrlich, die gerichtlich angemahnte Gleichstellung umzusetzen und selbst in der Szene ist mancherorts so etwas wie Müdigkeit zu verspüren, wenn es um das Engagement bezüglich der Rechte von Homosexuellen geht. Viele Heterosexuelle sind der Meinung, dass Schwule, Lesben und Transgender doch in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, wollen nicht ständig mit diesem Thema konfrontiert werden und reagieren hier und da allergisch. Dadurch entsteht am Arbeitsplatz, im Verein oder sogar bei Freunden eine Atmosphäre, die ein eventuell geplantes Coming out erschweren kann.
Erziehung als Schlüssel zu Toleranz und Offenheit
Zu den größten Problemfeldern im Bereich des Coming out gehört die Schule. Wie eine Studie zur Situation homosexueller Jugendlicher aus München zeigt, herrscht vor allem an Schulen ein extrem homophobes Klima. Schnell wird man als schwule Sau, Schwuchtel oder Tunte beschimpft, wenn man nicht den Vorstellungen der Klassenkameraden entspricht. In einer solchen Atmosphäre ist es für Jugendliche fast unmöglich, sich mit der eigenen Sexualität auseinander zu setzen. So wird das innere Coming out bzw. das äußere Coming out verhindert. Wer sich dennoch in der Schule outet und nicht über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügt, wird früher oder später Probleme bekommen. Einem homophoben Klima darf man aber nicht erst in der Schule entgegenwirken. Auch wenn die Lehrkräfte hier eine wichtige Funktion haben, die wichtigste Rolle spielt die Erziehung im Elternhaus, denn hier werden die Grundlagen für den offenen Umgang mit schwierigen Themen gelegt. Je früher und entschlossener ein Kind zu Offenheit und Toleranz erzogen wird, desto positiver wird es mit einer Situation umgehen, die Toleranz und Offenheit erfordert. Aber natürlich sind auch die Lehrer und Lehrerinnen aufgefordert, für dieses Thema sensibel zu bleiben und Aufklärungsarbeit im Unterricht zu leisten, betroffene Schülerinnen und Schüler zu unterstützen und gegen jede Form von Homophobie einzuschreiten. Wo die Lehrkraft deutlich macht, dass Homosexualität nichts verwerfliches ist und es schafft, diese Lebensform in positiver Weise zu thematisieren, da werden die Schüler zum Nachdenken bewegt. Dies kann ein erster Schritt sein, sich auch als Jugendlicher ernsthaft mit dem Thema Homosexualität zu befassen.
Coming out in einer Atmosphäre der Offenheit
Um einem Jugendlichen ein angstfreies Coming out zu ermöglichen, braucht es also vor allem eine Atmosphäre der Offenheit. Denn nur in einem von Akzeptanz und Angenommensein geprägten Klima hat ein homosexuell veranlagter Mensch die Möglichkeit, ohne Furcht vor Konsequenzen über seine sexuelle Orientierung zu sprechen und diese in innerer und äußerer Freiheit anzunehmen. Es hat sich gezeigt, dass nicht in erster Linie die Eltern die erste Anlaufstation sind, sondern sehr oft das Coming out bei guten Freunden der erste Schritt in die Öffentlichkeit ist, da sie als enge Bezugspersonen ein angstfreies Klima bieten.
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