Politskandal in Frankreich: Die Dreyfus-Affäre
Ein skandalöses Fehlurteil gegen den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus offenbart Frankreichs versteckten Antisemitismus und verändert die politischen Machtverhältnisse.Die Person Alfred Dreyfus
Geboren am 9. Oktober 1859, wächst Alfred Dreyfus als Sohn eines jüdischen Textilunternehmers im Elsass auf, welches zu dieser Zeit zum Deutschen Kaiserreich gehört. Die Familie besitzt jedoch die französische Staatsbürgerschaft und siedelt 1872 nach Paris über. Alfred Dreyfus legt dort seine Reifeprüfung ab und schlägt die Laufbahn eines Berufsoffiziers ein. Er heiratet. Eine Sohn und eine Tochter werden geboren. 1893 versetzt man Dreyfus zum Generalstab. Das Leben des Offiziers scheint sich planmäßig und vorhersehbar zu entwickeln. Doch die Weichen für sein späteres Unglück sind bereits gestellt: Dreyfus ist Jude, stammt aus dem verhassten Deutschland und hegt politisch eher fortschrittliche Gedanken. Alle drei Umstände werden ihn zum idealen Verdächtigen machen.
Die politische Lage in Frankreich
Seit dem verlorenen Krieg gegen Deutschland 1870/71 besteht in Frankreich die sogenannte Dritte Republik. Dennoch träumen viele Militärs von einer Revanche und der Wiederrichtung der Monarchie. Außenpolitisch ist das Land zeitweise isoliert, kann jedoch seine Stellung als Kolonialmacht ausbauen. Im Inneren prallen rechtsgerichtete Kräfte, Kirchenvertreter und Sozialisten aufeinander. Wie überall in Europa, gibt es jedoch einen gemeinsamen Feind: Die Juden. Sie gelten als kapitalistische Ausbeuter und religiöse Störfaktoren. Hinzu kommen abstruse Rassetheorien. Alfred Dreyfus, ein deutscher Jude ohne monarchistische Einstellung, befindet sich in diesem politischen Klima in höchster Gefahr.
Die Verurteilung: Alfred Dreyfus als idealer Täter
Im September 1893 schleust der französische Geheimdienst eine als Putzfrau getarnte Agentin in die deutsche Botschaft. Die Frau findet in einem Papierkorb brisante Dokumente. Offenbar hat ein französischer Offizier Militärgeheimnisse an die Deutschen verraten. Der Verdacht fällt auf Alfred Dreyfus. Nachdem man sich im Kriegministerium von seiner "Schuld" überzeugt hat, wird der Offizier verhaftet. Die Presse erhält einen anonymen Tipp. Antijüdische Klischees brechen offen aus. Dreyfus ist verurteilt, ehe er den Gerichtssaal betreten hat.
Das Gerichtsverfahren ist eine Farce. Gefälschte Dokumente kommen zum Einsatz. Mehrere entlastende Gegengutachten anerkannter Schriftexperten werden nicht gewürdigt. Dreyfus muss einfach der Täter sein, denn die Stimmung im Volk verlangt danach. Das Urteil kommt einer langsamen Hinrichtung gleich. Alfred Dreyfus wird lebenslänglich auf die Teufelsinsel verbannt, ein kleines Eiland vor der südamerikanischen Atlantikküste. Bei tropischen Temperaturen, angekettet in einer kleinen Hütte voller Ungeziefer, soll er langsam dahinsiechen. Verdorbene Lebensmittel werden seine Speise sein. Zuvor jedoch erleidet der Verurteilte noch eine öffentliche Demütigung. Vor 12 000 aufgehetzten Zuschauern nimmt die Degradierung des Offiziers ihren Lauf: Die Schulterstücke werden abgerissen und man zerbricht seinen Säbel. Dann tritt Alfred Dreyfus den Weg in die tödliche Verbannung an.
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J'accuse und der Kampf um Gerechtigkeit
Die Familie Dreyfus bemüht nun Presse und Politik, um die Verbannung aufzuheben. Doch erst im Sommer 1896 ändert sich die Lage. Der Geheimdienstoffizier Oberst Picquart entdeckt den wahren Spion der Deutschen: Major Marie-Charles-Ferdinand Walsin-Esterhazy. Der Offizier mit dem prächtigen Namen entstammt einer unehelichen Nebenlinie des ungarischen Fürstengeschlechts Esterhazy und verrät sich selbst durch einen unerklärlich luxuriösen Lebenswandel. Seine Handschrift ähnelt der von Dreyfus. Aber der Verräter hat mächtige Freunde in Frankreich. Oberst Picquart wird zum Schweigen verdonnert und nach Nordafrika abkommandiert. Ein Verfahren gegen Walsin-Esterhazy endet im Januar 1898 mit Freispruch. Die Verantwortlichen wollen ihren peinlichen Justizirrtum einfach nicht eingestehen. Doch inzwischen sind die Unterstützer von Dreyfus (sogenannte Dreyfusards) zu zahlreich, um überhört zu werden. Besonders der angesehene Schriftsteller Emile Zola macht aus seinem Zorn keinen Hehl. Zwei Tage nach dem skandalösen Freispruch des Verräters veröffentlicht er in einer Zeitung seine Kampfschrift "J'accuse" (Ich klage an). Darin benennt er Walsin-Esterhazy als den wahren Schuldigen und fordert eine Rehabilitierung für Alfred Dreyfus.
Alfred Dreyfus: Ikone und tragischer Held
Im Sommer 1899 ist es endlich so weit. Begleitet von internationalen Protesten, innenpolitischen Tumulten und Pressekampagnen rollt ein Kriegsgericht den Fall wieder auf. Dreyfus wird erneut schuldig gesprochen. Man erkennt jedoch mildernde Umstände an, verkürzt die Strafe auf zehn Jahre und bietet dem Häftling die sofortige Begnadigung an. Bedingung: Der Verzicht auf weitere Berufungsverfahren. Dreyfus akzeptiert, um der Todesinsel zu entkommen. Frankreichs Justiz hat ihr Gesicht gewahrt.
Erst 1906 rehabilitiert eine neue Regierung Alfred Dreyfus vollständig. Er wird zum Major befördert und zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Nach zwei unbedeutenden Kommandoposten im Inland nimmt er ein Jahr später jedoch seinen Abschied. 1908 schlägt ein Attentat auf Alfred Dreyfus fehl. Der deutsch-jüdische Franzose kämpft im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland. 1935 stirbt er an einem Herzinfarkt und wird zur französischen Ikone, der man später in Paris ein Denkmal setzt. Die antisemitischen Dimensionen der Affäre um ihn hat Dreyfus vermutlich nie ganz erfasst.
Was aus dem wahren Täter wurde
Major Walsin-Esterhazy siedelte nach England über, obwohl er sich damit endgültig vor der Öffentlichkeit diskreditierte. Offenbar vertraute er jedoch dem Freispruch des Gerichtes nicht dauerhaft. Die weitere Entwicklung der Affäre gab ihm in dieser Hinsicht wohl Recht. Die Fürstenfamilie Esterhazy zahlte ihm aus Gründen der Reputation 50 000 Franc. Im Gegenzug verzichtete der Spion auf den Namen Walsin-Esterhazy und nannte sich fortan Voillemont.
Die Affäre Dreyfus erschütterte die Dritte Republik und brachte eine sorgfältig verborgene Judenfeindlichkeit ans Tageslicht. Die während der Affäre aufbrechenden Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Interessengruppen betrafen jedoch nur vordergründig den Fall Dreyfus. In Wahrheit ging es um die politische Ausrichtung Frankreichs. In diesen Jahren entstanden zahlreiche neue Vereinigungen, darunter die rechtsextreme Partei Action Francaise sowie die Gewerkschaft CGT. Die vermutlich drastischste Veränderung betraf jedoch die katholische Kirche, welche sich in der Affäre antisemitisch profiliert hatte. 1905, also noch vor der endgültigen Rehabilitierung von Alfred Dreyfus, wurde die bis heute gültige Trennung von Kirche und Staat festgeschrieben.