Recep Ivedik 5
Recep Ivedik 6

Das Schöne daran, türkische Filme zu gucken, ohne türkisch zu sprechen und ohne mit dem aktuellen türkischen Alltag vertraut zu sein, ist auch die völlige Unwissenheit und Unvoreingenommenheit. In Ermangelung einschlägiger englischsprachiger Internetseiten, die über alle Hintergründe informieren – wie dies bei indischem oder ostasiatischem Kino der Fall ist – sieht man nur den Film an sich. Dass also der Komiker eines Film eigentlich TV-Star oder der Held eines Kitsch-Films ein berühmter Sänger ist, ahnt man oft allenfalls anhand der vollbesetzten Ränge im Kino. Hin und wieder erkennt man ja auch bestimmte Schauspieler oder einen Regisseur wieder. Aber oft hat man die Titel der Filme so schnell wieder vergessen wie die Filme selbst.

 

Propaganda

Dass allerdings türkische Filme nur in der westlichen Presse ernsthaft besprochen werden, wenn die Propaganda-Grenze des Erträglichen überschritten wird, ist ungerecht. Denn immer wieder gibt es eine wirklich komische, geistreiche Komödie oder ein ergreifendes, manchmal auch soziales Melodrama. Und niemand bekommt es dann mit, vor allem da die Filme sehr schnell wieder aus den Kinos verschwinden oder auf Nachtvorstellungen begrenzt werden. Und so konzentriert sich die Berichterstattung auf Werke wie den antiamerikanischen und antisemitischen, auch als faschistisch bezeichneten "Das Tal der Wölfe" (2006) oder auf "Fateh 1453" (2012), ein Hohelied auf das expansiv-aggressive Osmanische Reich, angereichert mit islampathetischer, antichristlicher Hass-Propaganda, bei dessen Kinovorstellungen das türkische Publikum am Ende gewöhnlich laut und zustimmend die Rückeroberung Konstantinopels laut applaudierend bejubelte. Zugegeben, das wirkte auf einen außenstehenden Zuschauer wie mich tatsächlich uneimlich und beklemmend, aber das türkische Kino ist mehr, und die Tatsache, dass Integration nicht mehr als ein Wort im Duden ist, war für mich in den letzten knapp zehn Jahren, in denen ich regelmäßig viel Spaß am diesem Kino hatte, nie ein Grund, ihm die Freundschaft zu kündigen.

 

Fateh 1453

Deliler

Einen Blick in die Vergangenheit gibt es in dem neuen Film "Deliler", eine Art "Game of Thrones" auf Türkisch. Fantasy-Historie rund um das Osmanische Reich, das als Hort des Friedens und der Religionsfreiheit gegen den bösen, teuflischen Feind aus dem Inneren verteidigt werden muss. Eine Gruppe von Kriegern, der Anführer trägt riesige Vogelflügel an seinem Rücken, reitet durch karge Felslandschaften, um im Namen des Sultans den Feind zu besiegen, der mit Hilfe von durch einen Alchemisten infizierte Ratten am liebsten die ganze Menschheit und, unter Umständen, Gott noch dazu auslöschen will. Brutale, stilisierte Kampfszenen erfüllen die Action-Erwartungen, aber im Großen und Ganzen verläuft die Odyssee der Krieger etwas zäh und ertrinkt in pathetischen Dialogen, die durch die stotterigen Untertitel nicht erträglicher werden. Eine Schlussszene mit einer bissigen Ratte deutet eine Fortsetzung an. Propaganda lauert hier allenfalls im Hintergrund, so wie in der Story des Films der Papst mit seinen wie immer finsteren Absichten.

 

Hedefim Sensin

Ist "Deliler" ein reiner Männerfilm, in dem die einzige Frau, die ein Stück mitreitet, schnell bei einer Gruppe von vor dem Christentum zu den Türken geflüchteten Juden abgeliefert wird, lassen sich in der hübschen Komödie "Hedefim Sensin" die Frauen von den Männern nichts gefallen. Besoffenes Machoselbstbewusstsein endet da schnell unter ein paar Eimern kalten Wassers. Bei diesem Film freute ich mich mal wieder auf die beiden Hauptdarsteller Ata Demirer, den schauspielernden Musiker und Kabarettisten, und Demet Akbağ, in Komödien auf exzentrische Rollen spezialisiert, die die ausgebildete Theaterschauspielerin immer mit faszinierender und wandlungsfähiger Überzeugungskraft verkörpert. Der beste Film mit den beiden ist der temporeiche "Eyvah eyvah" (2010), der zwei Fortsetzungen nach sich zog. In "Hedefim Sensit" spielt Demirer einen naiven Koch und Cig-Börek-Experten, der immer sein großes Serviertablett mit sich herumträgt wie Obelix einen Hinkelstein. Durch seine freundliche, aber gedankenlose Redseligkeit löst er eine Mafia-Schießerei aus, gerät dabei in den Besitz einer wertvollen antiken Münze und wird deshalb von den Gangstern gesucht, während er vorsorglich auf die Aegeische Insel Gökçeada flüchtet, was für bunte Urlaubsatmosphäre sorgt und wo der Koch Arbeit bei einem kleinen Familienbetrieb bekommt. Demet Akbağ spielt in einer großartigen Mischung aus echter, tief sitzender Verletztheit und grotesker Wut eine von ihrem Mann verlassene Frau, die ihre Antidepressiva zu oft mit Alkohol mischt und dann auf wildfremde Männer losgeht, die sie an ihren Ex erinnern. Und ihre Nichte malt für die Touristen Frieda-Kalo-Bilder, ein Motiv, das "für die Freiheit der Frau" steht. Auf die Art werden in den oft sehr irrsinnigen und albern-anarchischen Komödien kleine moderne Botschaften versteckt, ohne didaktisch zu sein. Die Schauspieler in "Hedefim Sensit" machen Spaß, die Liebesgeschichte ist niedlich, nur die Komödie ist leider etwas gebremst.

 

Hedefim Sensin (Trailer)

Müslüm

Ein uneingeschränkt guter, empfehlenswerter Film ist "Müslüm" über den türkischen Sänger Müslüm Gürses (1953-2013), der den Beinamen Baba, Vater, trug und fanatisch verehrt wurde. Zunächst einmal ist "Müslüm" ein traditionelles Biopic, das die Schlüsselaugenblicke eines Lebens, von Kindheit bis Tod, umfasst. Und was für eine Story hier erzählt werden kann! Eine Story, die man als konstruiert betrachten würde, hätte sie jemand einfach erfunden: Als Jugendlicher erlebt Müslüm, wie sein gerade aus dem Gefängnis entlassener Vater seine Mutter und die kleine Schwester tötet. Müslüms Bruder wird später als junger Mann vom Militär zu seiner Verlobten desertieren und erschossen, als er sich nicht ergeben will. Nach ersten Erfolgen als Sänger in Bars hat Müslüm einen schweren Autounfall, wird schon für tot gehalten, liegt im Leichenschauhaus, doch dann bemerkt jemand, dass er sich noch bewegt. Seine einzige Ehefrau wird der 21 Jahre ältere Filmstar Muhterem Nur, die er schon als Jugendlicher abgöttisch verehrt hat. Und wer würde sich in der Fiktion einen Helden ausdenken, der seine zukünftige Gattin bei der allerersten Begegnung besoffen niedergeschlagen hat, weil er wütend war, dass sie bei einer Tournee ein Lied sang, das er selbst vortragen wollte? Bei all dem hält der atmosphärisch stimmige Film eine schöne Balance zwischen nötiger Distanz und den starken Emotionen.

 

Und dann ist "Müslüm" doch auch mehr als ein einfaches Biopic. Vor allem einmal ist es ein wunderschöner Film über Musik, die es natürlich reichlich zu genießen gibt. Aber auch Musik als etwas Religiöses, das Seelen und Leben retten kann. Musik ist nicht nur rein praktisch das Hilfsmittel, das Müslüm Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein gibt und den sozialen Aufstieg erlaubt. Die spirituelle Kraft wird deutlich nach dem schweren Autounfall, wenn der Arzt ihm erklärt, dass er mit seinem geschädigten Gehör nicht mehr singen könne. Doch Müslüm erinnert sich an seinen Musiklehrer, der ihm einschärfte, dass nur er selbst sich vom Singen abhalten könne. Und so bringt er sich bei, ganz von innen heraus zu singen, ohne Gehörkontrolle. Und gerade das gibt seinem Gesang den allerletzten Schliff zur Größe, zum ganz und gar verinnerlichten Ausdruck seines tiefsitzenden Lebensschmerzes, der sich in seinen Liedern findet. Darüber hinaus ist der Film dank Hauptdarsteller Timuçin Esen auch ein beeindruckendes Trinkerporträt um einen widersprüchlichen Mann, der imstande ist, großherzig und wie selbstverständlich einem wildgewordenen Fan zu verzeihen, der ihm während eines Konzertes ein Messer in den Oberkörper jagt. Gleichzeitig trinkt Müslüm pausenlos, oft bis zum Kontrollverlust. Er trinkt aus Angst, wie sein gewalttätiger Vater zu werden, wobei er gerade dadurch dann so wird. Ein körperlich-geistiger Teufelskreis, aus dem er sich nicht zuletzt dank seiner Frau befreien kann, die ihn zwischendurch allerdings verlässt. Während des Nachspanns sieht man einen Interviewausschnitt mit der echten Muhterem Nur, die erzählt, wie sehr sie ihren 2013 verstorbenen Ehemann vermisst.

 

Müslüm (Trailer - OmeU)

Şampiyon

Auch der Pferderennenfilm "Şampiyon" hat im Nachspann Dokumentarbilder und sogar einen Interviewausschnitt mit dem Jockey Halis Karatas, dessen Frau Begum Atman 2014 gestorben ist. Der Fim ist tatsächlich eine kleine Überraschung, wenn man sich vorher nicht über den Film informiert hat, was ich grundsätzlich möglichst vermeide, und man einen typischen, kitschigen, aber belanglosen Pferdefilm mit Liebesgeschichte erwartet hat. Doch beruht die Geschichte auf Tatsachen und spielt ganz real vor dem Hintergrund des türkischen Rennsports, in dem in den 90ern das legendäre Rennpferd Bold Pilot auftauchte. Um um dieses Pferd entwickelt sich eine Liebesgeschichte, eine Art telepathische Dreiecksbeziehung zwischen Mann, Frau und Tier, dessen fulminante Siege parallelisiert werden mit dem Kampf der Frau gegen ihre schwere Krebserkrankung. Und wie in "Müslüm" enthält der Film eine sanfte Spiritualität, die vermutlich der beste und einzig mögliche Widerstand ist gegen die bombastischen, machtbesessenen Parolen der Fanatiker. Wenn also im Film der Satz fällt, dass die Rennen mit Bold Pilot auch Leute geguckt haben, denen Pferderennsport sonst egal ist, dann könnte ich Entsprechendes über den Film sagen.

 

Autor seit 11 Jahren
40 Seiten
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