Am Anfang des Buches erfährt der Leser, wie Jeffrey Long überhaupt mit dem Thema "Nahtoderfahrungen" in Berührung gekommen ist und was ihn dazu veranlasst hat, sich intensiv damit zu beschäftigen. Und zwar war er - als er sich in der Facharztausbildung zum Radiologen befand - zufällig in einer Fachzeitschrift auf einen Artikel über Nahtoderfahrungen gestoßen, und seitdem hatte ihn das Thema nicht mehr losgelassen, obwohl er – wie er betont – lange gebraucht hat, um seine Skepsis gegenüber der Vorstellung von einem Leben nach dem Tod zu überwinden. Das entscheidende Erlebnis auf diesem Weg, sozusagen das Erlebnis, das ihn vom "Saulus zum Paulus" gemacht hat, war die Begegnung mit einem ehemaligen Studienkollegen und dessen Frau, die selbst während einer Operation einen Herzstillstand erlitten und zu diesem Zeitpunkt eine Nahtoderfahrung gemacht hatte, die sie ihm detailliert geschildert hat.

Der hohe wissenschaftliche Anspruch der Studie

Bei der Beschäftigung mit den Ergebnissen der NDERF-Studie, über die Long in seinem Buch berichtet, fällt zunächst die Präzision und Strenge der Methoden auf, die bei dieser Studie angewandt worden sind. So stützt sich das Buch im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Befragung von 613 Nahtoderfahrenen, die nacheinander die jüngste Version des NDERF-Fragebogens ausgefüllt haben, und diese Version enthält die NTE-Skala-Fragen. Und zwar besteht die NTE-Skala aus 16 Fragen zum Inhalt der Erfahrung und ist, wie Long betont, die am besten gesicherte Forschungsmethode, um Nahtoderfahrungen von anderen Erfahrungen zu unterscheiden. Hier ist bemerkenswert, dass die 613 Nahtoderfahrenen, deren Berichte in dem Buch vorgestellt werden, alle hohe Werte auf der NTE-Skala erreicht haben, was ihre Erlebnisse zusätzlich als echte Nahtoderfahrungen bestätigt. Aufgrund der Ergebnisse dieser bisher größten interkulturellen Studie über Nahtoderfahrungen entwickelt Long neun Argumentationsketten, die seiner Meinung nach die Existenz eines Lebens nach dem Tod beweisen. Diese Argumentationsketten sind – so mein Eindruck - wirklich überzeugend und ziehen den Leser in ihren Bann, vor allem, weil sie durch Erfahrungsberichte untermauert werden, die sehr bewegend sind.

Was ist überhaupt eine Nahtoderfahrung?

Bei der ersten Argumentationskette – auf die ich etwas ausführlicher eingehen möchte – wird beschrieben, was überhaupt eine Nahtoderfahrung ist. Und zwar spricht man dann von "Nahtod", wenn der oder die Betroffene körperlich so schwer geschädigt ist, dass er oder sie stirbt, wenn keine Besserung eintritt. Das bedeutet auch, dass die Nahtoderfahrenen in der Studie in der Regel ohne Bewusstsein und häufig augenscheinlich klinisch tot waren, weil Herzschlag und Atmung ausgesetzt hatten. Und etwa zehn bis zwanzig Sekunden, nachdem kein Blut mehr ins Gehirn strömt, wird die für das Bewusstsein notwendige Aktivität eingestellt. Folglich zeigt das Eletroenzephalogramm (EEG), das die elektrische Aktivität des Gehirns misst, eine Nulllinie. Nach einem Herzstillstand verfügt man also nicht mehr über die Wahrnehmungen und die Sinne eines lebendigen Menschen, so dass eine bewusst wahrgenommene Erfahrung unmöglich sein sollte. Und dennoch haben Menschen, die sich in diesem Zustand befinden, äußerst luzide Erlebnisse, die klar und logisch sind und wohlgeordnet ablaufen. Die Forschungen der NDERF haben sogar ergeben, dass der Grad von Bewusstheit und Wachheit während einer Nahtoderfahrung für gewöhnlich höher ist als im Alltag. Menschen, die sich am Rande des Todes befinden, verfügen also über eine schärfere Sinneswahrnehmung und ein erhöhtes Bewusstsein, was medizinisch nicht erklärbar ist. Long folgert daraus, dass das Bewusstsein beim Tod den Körper verlässt.

Beweise für ein Leben nach dem Tod

Für Long gehört eine lebendige und bewusste Erfahrung in der Zeit des klinischen Todes zu den besten Beweisen für eine bewusste Existenz nach dem körperlichen Tod, die für uns verfügbar sind. Hinzu kommen die konkreten Erfahrungen, die Bewusstlose oder klinisch Tote machen, wenn sich ihr Bewusstsein vom Körper gelöst hat – was oft das erste Element einer Nahtoderfahrung ist. Denn in diesem Zustand, in dem ihre physischen Augen und Ohren nicht funktionieren, können sie sehen und hören, und dass, was sie dabei wahrnehmen, ist fast immer real. In diesem Zusammenhang sprechen Nahtoderfahrene häufig auch von einem überirdischen Sehvermögen, zum Beispiel von Rundumsicht. Drittens treten Nahtoderfahrungen unter Vollnarkose auf, also dann, wenn keinerlei Form von Bewusstsein möglich sein sollte. Viertens haben blinde Menschen bei Nahtoderfahrungen auch visuelle Wahrnehmungen. Fünftens gibt die Lebensrückschau, die bei sehr vielen Nahtoderfahrungen auftritt, reale Ereignisse im Leben der Betroffenen akkurat wieder. Sechstens sind fast alle Menschen, denen die Betroffenen während ihrer Nahtoderfahrung begegnen – meistens sind dies Verwandte - zu der Zeit bereits verstorben. Frappierend sind auch – hier findet man die siebte und die achte Beweiskette - die Ähnlichkeit zwischen den Nahtoderfahrungen von kleinen Kindern und Erwachsenen sowie die Übereinstimmung zwischen Nahtoderfahrungen, über die Menschen berichten, die unterschiedlichen Kulturkreisen angehören.

Tiefgreifende Nachwirkungen

Besonders bemerkenswert finde ich – darauf beruht die neunte Beweiskette – die tiefgreifenden Nachwirkungen, die eine Nahtoderfahrung sowohl für die Betroffenen selbst als auch für ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach sich ziehen kann. So brauchen – wie Long schildert – die Betroffenen zunächst viel Zeit, bis sie ihr Erlebnis verarbeitet haben, und stoßen oft auf Unverständnis, wenn sie über ihre Nahtoderfahrung berichten wollen. Bei vielen Nahtoderfahrenen kommt es zu so gravierenden Veränderungen ihrer Persönlichkeit und ihrer Wertvorstellungen, dass sie auf Familie und Freunde wie völlig fremde Menschen wirken. Manche wählen auch einen anderen Beruf und gehen neue Beziehungen ein. Viele gehen liebevoller und mitfühlender mit anderen um. Manchmal kommt es bei schweren Erkrankungen, die die Betroffenen in die lebensbedrohliche Situation gebracht hatten, zu unerklärlichen Heilungen. Nahtoderfahrene können auch auf einmal mediale Fähigkeiten besitzen. Bei vielen Nahtoderfahrenen verringert sich die Angst vor dem Tod oder verschwindet ganz, denn die meisten sind fest davon überzeugt, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Für Long müssen diese Nachwirkungen von Nahtoderfahrungen so gedeutet werden, dass diejenigen, die ihren Fuß kurz ins Leben nach dem Tod setzen, bei ihrer Rückkehr ein Stück davon mitbringen.

Weitere Elemente von Nahtoderfahrungen

Ich möchte kurz noch weitere Elemente nennen, die, wie bereits die ältere Nahtodforschung gezeigt hat, bei Nahtoderfahrungen häufig auftreten und über die auch viele Teilnehmer an der NDERF-Studie berichtet haben. Diese sind:

  •  Intensive und im Allgemeinen positive Gefühle und Empfindungen
  •  Hineingehen in oder Hindurchgehen durch einen Tunnel
  •  Begegnung mit einem mystischen oder strahlenden Licht oder mit mystischen Wesen
  •  Das Gefühl, das Raum und Zeit sich verändert haben
  •  Eintritt in unirdische ("himmlische") Welten
  •  Begegnung mit oder Erlernen von besonderem Wissen
  •  Auftreffen auf eine Grenze oder Barriere 
  •  Freiwillige oder unfreiwillige Rückkehr in den Körper.

Die Funktion der Völkerverständigung

Von einer großen Weitsicht zeugen die Überlegungen Longs zu einer politischen und sozialen Funktion, die die NDERF-Studie aufgrund ihrer Ergebnisse erfüllen könnte. Denn dass Nahtoderfahrungen über alle Kulturen, Rassen und Religionen hinweg auffällig übereinstimmen, dass also im Moment des Todes alle Menschen Ähnliches erleben, ist Long zufolge in einer Welt, die unter großer seelischer Bedrängnis leidet, eine sehr gute Nachricht. Viele individuelle und gesellschaftliche Probleme, denen sich die Menschheit gegenübersieht wie Drogensucht und Alkoholismus, Gewalt, religiöser Fanatismus, Rassismus etc. könnten seiner Meinung nach durch eine so kraftvolle gemeinsame Erfahrung gelöst oder zumindest einer Lösung näher gebracht werden. Das heißt: Die Erkenntnis, dass Menschen aller Kulturen im Moment des Todes Ähnliches erleben, könnte seiner Meinung nach ein hilfreiches Instrument für den interkulturellen Dialog und das Verständnis zwischen den Völkern sein und so dem Weltfrieden dienen.

Die Argumente der Skeptiker

Long geht auch ausführlich auf die Argumente derjenigen ein - das ist für mich eine weitere Stärke seines Buchs – für die Nahtoderfahrungen keine Beweise für ein Leben nach dem Tod sind, sondern Ursachen haben, die mit dem Zustand des Gehirns angesichts des Todes zusammenhängen. So ist ein "beliebter Einwand", Nahtoderfahrungen seien Folge einer Hypoxie, also eines bereits eingetretenen Sauerstoffmangels im Gehirn. Andere Skeptiker meinen, die außerkörperlichen Erfahrungen während einer Nahtoderfahrung seien lediglich Erinnerungsbruchstücke, die aufflackern, wenn ein Mensch stirbt. Andere Skeptiker behaupten, Bewusstseinsaktivitäten während einer Operation, wie sie typisch sind für Nahtoderfahrungen, könnten Folge einer zu schwachen Anästhesie sein. Insgesamt haben Skeptiker – wie Long berichtet - im Laufe der Jahre mehr als 20 verschiedene "Erklärungen" für Nahtoderfahrungen vorgelegt. Dass es so viele verschiedene Erklärungsversuche gegeben hat, ist für Long Ausdruck der Hilflosigkeit der Skeptiker. Denn die Skeptiker konnten – so Long - nie erklären, wie es zu Nahtoderfahrungen kommt, warum ihr Inhalt so gleichbleibend übereinstimmt und warum die Wahrnehmungen während der Nahtoderfahrungen so luzide sind.  Die Tatsachen widersprechen also den Behauptungen der Skeptiker.

Abschließende Bewertung

Für mich ist die von Long vorgelegte "Dokumentation von Nahtoderfahrungen aus der ganzen Welt" wegen der Vielzahl der Fälle, zwischen denen bemerkenswerte Übereinstimmungen festgestellt worden sind, und wegen des hohen Anspruchs, der der Studie zugrundeliegt, der bisher überzeugendste Versuch, Nahtoderfahrungen wissenschaftlich zu erklären. Ich würde daher dieses Buch denjenigen empfehlen, die dem Phänomen "Nahtoderfahrung" immer noch skeptisch gegenüberstehen, aber auch denjenigen, die diesem Thema gegenüber aufgeschlossen sind und hier ein wirklich tragfähiges Fundament für ihre Haltung finden.

Bildnachweis

Alle Bilder: Pixabay.com

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