Objektivierung und Welle-Teilchen-Dualismus

Zunächst beschreibt Malin den grundlegenden Unterschied zwischen dem herkömmlichen wissenschaftlichen Untersuchungsansatz und dem der Quantenphysik. Und zwar folgen gemäß dem bisherigen wissenschaftlichen Weltbild alle Prozesse in der Natur einer linearen, mechanistischen Logik. Entsprechend wird hier, wie Malin im Anschluss an Schrödinger zeigt, das Subjekt der Erkenntnis aus dem Prozess einer wissenschaftlichen Untersuchung ausgeschlossen und damit der Untersuchungsgegenstand zu einem leblosen Objekt.

Gleichzeitig setzten die diesem Weltbild folgenden Wissenschaftler alles daran, die scheinbar leblose Materie in immer kleinere Einheiten zu zerlegen, um letztlich ihre angeblich unteilbaren Bausteine zu erkennen, und mit dem Finden der Atome war dieses Ziel scheinbar erreicht. Dann wurde von der Quantenphysik gezeigt, dass Atome aus noch kleineren Bestandteilen bestehen, nämlich aus Elementarteilchen. Zu diesen Elementarteilchen bzw. Quanten gehören die Elektronen und das Lichtteilchen Photon.

Hinzukam die Merkwürdigkeit, dass sich sowohl Licht als auch Elektronen manchmal wie Teilchen verhalten und manchmal wie Wellen. Bohr löste diesen Widerspruch – so Malin - indem er das Begriffssystem der "Komplementarität" (Ergänzung) einführte. Und für Letzteres ist die von Heisenberg postulierte "Unschärferelation" exemplarisch, wonach es die Quantentheorie nicht erlaubt, den Ort und die Geschwindigkeit von Elektronen gleichzeitig genau zu messen. Dies bedeutet auch, dass Elektronen für sich genommen keine "Dinge" sind, dass sie also nicht wirklich in Raum und Zeit existieren, sondern erst durch den Akt der Messung vorübergehend wirklich in Erscheinung treten. Erst die Messung bewirkt also, dass das Elektron tatsächlich existiert.

Die Komplementarität von Teilchen und Wellen entspricht, wie Malin betont, dem Wechselspiel zwischen zwei Arten des Seins: dem Möglichen und dem Wirklichen, und der Vorgang, durch den im Rahmen einer Messung das Mögliche zum Wirklichen wird, wird als "Kollaps von Quantenzuständen" bezeichnet: Aus einem Feld von Möglichkeiten tritt ein "elementares Quantenereignis" hervor. Malin spricht hier von einem tiefen Geheimnis, das die Quantentheorie birgt. Denn der Prozess selbst ist atemporal, spielt sich also außerhalb der Raumzeit ab, hat aber dennoch ein tatsächliches Ereignis in der Raumzeit zur Folge. Die wirklichen Ereignisse in der physikalischen Welt sind folglich das Resultat eines subtilen Wechselspiels zwischen Möglichem und Wirklichem. Dass uns Gegenstände in der physikalischen Welt wie ein Tisch als Materie und damit als etwas Festes erscheinen, liegt Malin zufolge daran, dass sich hier bestimmte Muster elementarer Quantenereignisse ständig wiederholen.

Parallelen zur Philosophie – das "Wesen" der Wirklichkeit

Die Transformation von Potenzialität in Aktualität bzw. die Verwandlung des Möglichen in das Wirkliche aber spielt Malin zufolge nicht nur im Begriffssystem der Quantentheorie eine Rolle, sondern auch in der – von dem griechischen Philosophen Platon geprägten Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads, bei Platon selber und in der neuplatonischen Philosophie Plotins.

Whitehead zufolge gibt es nur eine Art von Wirklichkeit, und wenn es nur eine Art von Wirklichkeit gibt, dann muss sie – so Malin - von der Art der Erfahrung sein, denn die Existenz von Erfahrungen könne nicht geleugnet werden, auch wenn diese manchmal unbewusst seien. Mit dieser Vorstellung wird seiner Meinung nach die Dichotomie von Geist und Materie und damit auch von Subjekt und Objekt überwunden. Deshalb liefere Whiteheads Prozessphilosophie eine adäquate metaphysische Grundlage für das Verständnis der Wirklichkeit.

Aber gleichzeitig gibt es seiner Meinung nach wesentliche Fragen, die von ihr nicht beantwortet werden, wie die Frage, ob die Wirklichkeit aus verschiedenen Stufen besteht, von denen manche in einem metaphysischen Sinne "höher" sind als andere, oder die Frage nach der Rolle des Menschen im kosmologischen Schema. In diesem Zusammenhang unterscheidet Malin in Anlehnung an die platonische Vorstellung vom Nous als Seinsstufe des Geistes bzw. Weltgeistes zwischen der Welt des Noumenalen und der Welt des Phänomenalen. Es gibt also – so Malin – nicht nur unsere "niedere" Sinneswelt, sondern auch eine "höhere" Welt des geistig Erkennbaren. Diese entsprechen der Welt des Zeitlosen und der Welt des Zeitgebundenen. Die Schnittstelle zwischen beiden Welten bestehe darin, dass das Zeitlose bzw. Noumenale für das Zeitgebundene bzw. die Sinneswelt einen Satz von Möglichkeiten zur Verfügung stellt.

Die Rolle des Menschen

Die Entscheidung, welche der gegebenen Möglichkeiten verwirklicht wird, entspricht dem Übergang vom Zeitlosen zum Zeitgebundenen und damit – so Malin - dem Kollaps von Quantenzuständen in der Quantenmechanik. Der Kollaps von Quantenzuständen könne somit im Sinne einer Teilhabe der noumenalen Welt an der phänomenalen Welt interpretiert werden. Und es sei die Aufgabe der Menschen - darin bestehe ihre Funktion in einem lebendigen, intelligenten und vielschichtigen Universum – die Verbindung herzustellen zwischen der noumenalen Welt als der immateriellen, raumzeitlosen Dimension und der phänomenalen Welt als der materiellen, raumzeitlichen Dimension der Wirklichkeit.

Und das geschieht, wie Malin betont, indem die Menschen die Welt, die sie erfahren, als Projektion oder Spiegelbild des Weltgeistes, des Nous, begreifen und ihr Potenzial realisieren, um mit der Intelligenz des Nous in Verbindung zu treten. Ein wichtiges Beispiel dafür sei die Rolle des Beobachters in der Quantenmechanik, dessen Aufgabe darin besteht, im Rahmen einer Quantenmessung zielgerichtet bestimmte Bedingungen für den Übergang des Möglichen zum Wirklichen und damit für das Auftreten eines elementaren Quantenereignisses zu schaffen. In analoger Weise vollziehe ein Wissenschaftler den Übergang von der noumenalen zur phänomenalen Welt, wenn er versucht, seine Erkenntnisse in Worte zu fassen.

Aber immer spiegelten sich in unseren Erfahrungen, wenn wir in Beziehung zum Nous treten, innere Ruhe, Glück und Fürsorge wider. Im Extremfall könne die Fürsorge so weit gehen, dass jemand – ohne lange zu überlegen - sein Leben riskiert, um einen anderen zu retten. Immer aber setzt Malin zufolge die Verbindung der beiden Bereiche, nämlich des Phänomenalen mit dem Noumenalen, eine Transzendierung des Subjekt-Objekt-Modus der Erkenntnis und den Übergang in einen Zustand der Kontemplation voraus. Diese sei eine gegenüber der Erkenntnis durch den Verstand höhere Erkenntnisweise. Jedenfalls seien die Menschen die einzigen Wesen, die das Noumenale und das Phänomenale zueinander in Beziehung setzen können, indem sie beide gleichzeitig erfahren.

 

Teilhabe am Göttlichen

Im Zusammenhang mit der Aufgabe des Menschen im Universum spricht Malin in Anlehnung an Schrödinger, der sich wiederum u.a. auf Plotin bezieht, auch von der Doppelrolle des Geistes. So ist der Geist einerseits der Weltgeist, andererseits das jeweilige Bewusstsein eines Menschen. Das heißt: Auf der einen Seite ist der Geist die Bühne, die dem Schauspiel der Erscheinungen vorgeordnet ist, und insofern ewig und zeitlos. Auf der anderen Seite spiegelt sich das Schauspiel der Erscheinungen in den einzelnen menschlichen Bewusstseinen wider. Aber dennoch sind die einzelnen Bewusstseine nichts anderes als der eine Geist, das eine Bewusstsein, die Weltseele.

Und damit kommt auch wieder Gott ins Spiel, denn die platonische Vorstellung vom Nous als Weltseele ist, wie Malin betont, vergleichbar mit Whiteheads Gottesbegriff, insbesondere mit dem, was er als die "Urnatur Gottes" bezeichnet. Whitehead bezog sich hier auch auf den kreativen schöpferischen Prozess, der im Universum allgegenwärtig ist, und sprach davon, dass der Mensch, insofern er an diesem Prozess teilhat, am Göttlichen teilhat, und dass diese Teilhabe seine Unsterblichkeit sei.

Bewertung

Indem Malin in seinem Buch eine Verbindung herstellt zwischen der Quantenphysik und bestimmten Strömungen der Philosophie, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines neuen wissenschaftlichen Weltbilds, das die Beschränkungen und Fehleinschätzungen des alten Newton'schen Weltbilds überwindet, und zwar durch die Beantwortung der Frage nach den Ursachen für das Auftreten eines elementaren Quantenereignisses bei physikalischen Experimenten. Auslöser dafür ist nämlich – um dies noch einmal hervorzuheben - das Treffen einer Wahl aus einem bestimmten Satz von Möglichkeiten und damit der Übergang von der immateriellen, raumzeitlosen Dimension zur materiellen, raumzeitlichen Dimension der Wirklichkeit.

Und diese Antwort führt zur Vorstellung von einem Universum, in dem - und das ist das Entscheidende - geistige und sinnliche Erfahrungen eine Einheit bilden, in dem folglich Subjekt und Objekt nicht getrennt sind. Wir leben mit anderen Worten in einem organischen Universum, in einer lebendigen Natur, in der es keine tote Materie gibt. Die Antwort hat also erhebliche Auswirkungen auf unser Bild von der Wirklichkeit und von uns selbst, aber damit auch auf unseren Umgang mit unserem Heimatplaneten. Denn dieser tritt uns nun als ein lebendiges Wesen gegenüber, das es zu schützen gilt.

Aufgrund dieser praktischen Relevanz der Erkenntnisse, die uns der Autor präsentiert, lohnen sich meiner Meinung nach die Zeit und die Mühe, die man bei der Lektüre dieses Buchs aufbringen muss. Um den Lesestoff anschaulicher zu gestalten, hat der Autor in die Argumentation Gespräche mit zwei fiktiven jungen Leuten, Julie und Peter, eingefügt. Die beiden sind Astronauten, haben bereits ihre ersten Flüge ins All absolviert und interessieren sich brennend für die Themen, die der Autor behandelt. - In einer Kurzrezension hat übrigens die FAZ über Malins Buch geschrieben: "Das Thema des Buches ist ohne falsche Bescheidenheit das Leben, das Universum und der ganze Rest."

Abschließend möchte ich noch einmal Bezug nehmen auf das Buch von Klaus-Dieter Sedlacek mit dem Titel "Unsterbliches Bewusstsein", das ich kürzlich hier vorgestellt habe. Meines Erachens sind die Parallelen zwischen dem von Sedlacek skizzierten Bild vom Jenseits und der Dimension des Noumenalen, wie sie Malin an Anlehnung an die platonische Philosophie beschreibt, frappierend.

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