Rezension Wolf von Niebelschütz: Kinder der Finsternis
Wolf von Niebelschütz, der jung verstorbene deutsche Autor, hat mit nur zwei Romanen Pflöcke gesetzt in der Welt der historischen Romane. "Kinder der Finsternis", ein Geheimtipp für Literaturliebhaber– Anzeige –
Niebelschütz: Sprache wie aus einer anderen Zeit
"Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrüchen." Das ist Sprache, wie sie leibt und lodert, wie sie wogt und singt. Ein erster Satz – und schon blickt der Leser auf eine Bühne des Mittelalters, in die hinein Wolf von Niebelschütz seine Exposition schickt für den Roman "Die Kinder der Finsternis".
Weiter: "Die Mur war hinabgemalmt mit ihm und seinem Karren und seinen Maultieren und seiner Geliebten, unter ihm fort, über ihn hin, als schmettere das Erdreich ihn in den Schlund der Hölle, kurz vor Anbruch der Nacht." Ein starkes Bild: Der Bischof unterwegs mit der Geliebten und, statt mit Pferdekutsche, wie es wohl jeder andere historisch gemeinte Roman dem Leser einreden würde, mit Maultieren! Aus solchen Gegensätzen, aus solchen Brüchen der Lese-Erwartung bezieht von Niebelschütz seine dichterische Kraft.
"Fünf Stunden donnerten die Gießbäche, Felsen und Schuttlawinen; die Bergflanke bebte. Fünf Stunden kauerte die Geliebte neben dem Gehaßten, unverletzt, naß bis zur Haut, frierend, obwohl es warm war." Ein hinreißend gesetztes Semikolon: Da wird ein Beisatz zum lapidaren Beiwerk – und, ganz nebenbei, da wird das von den Rechtschreibreformern ins Asyl verbannte ‚ß‘ zur farb- und tongebenden Krone: Gießbäche, Gehaßter, naß!
"Fünf Stunden schrien und keilten hufoben die Mulis und rüttelten durch das verknäulte Geschirr den Wagenkasten, der ohne Räder hintüber auf dem Steinmeer saß, bedeckt von grauenvoller Dunkelheit." Umlaute, um die uns die Welt beneidet – Räder, rütteln, verknäult, hintüber. Und alles das, ohne den Konjunktiv zu bemühen.
Tabubruch: verderbte Kirche – sanftmütig-menschlicher Islam
Wolf von Niebelschütz feilt sich eine Sprache, wie wir Leser sie heute im Grunde nur noch von lateinamerikanischen Größen erwarten. Von Gabriel García Márquez zum Beispiel ("100 Jahre Einsamkeit") oder von Gioconda Belli ("Tochter des Vulkans"). Er schreibt wie aus einer andern Zeit, ohne dabei altmodisch zu sein. "Die Kinder der Finsternis" ist nur einfach kein Buch für nebenbei. Dieser Roman verdient den Sessel am Kamin und zwei Stunden liebevolle Zuwendung. Dann erhält der Leser mannigfach zurück.
Vielen Büchern haftet das Etikett an: Pageturner. Das ist wohl lobend gemeint und soll heißen, dass man das Buch nicht zur Seite legen kann, bevor nicht das letzte Wort gelesen ist. Unter diesem Aspekt betrachtet, handelt es sich bei der "Finsternis" um literarisches Slow-food: Kaum vorstellbar, den Roman auf einen Sitz zu lesen. "Die Kinder der Finsternis" ist keine Ware wie "Der Medicus" oder "Die Päpstin". Da können durchaus mal Wochen verstreichen, bevor man die Lektüre erneut aufnimmt, weil man weiß, dass man jetzt Muße hat für diese Sprache – und nicht bloß Zeit.
(Bild: johannes flörsch)
Der Inhalt von "Die Kinder der Finsternis"
"Die Handlung auch nur in groben Zügen wiederzugeben, ist verlorene Liebesmüh", heißt es im Klappentext. Ohne kneifen zu wollen: Da ist was dran. "Die Kinder der Finsternis" spielt im 12. Jahrhundert in Kelgurien, auch mauretanische Mark genannt; Niebelschütz hat die fiktive Region irgendwo in der Provence zwischen Burgund und Spanien angesiedelt und seinem Roman eine Karte beigelegt. Niebelschütz war profunder Kenner der Region, er hat sie bereist, und noch immer ist es eine Herausforderung, seine Hinweise auf Gebiete, Landschaften, Ortschaften zu entschlüsseln.
Sein Held heißt Barral. Er ist der starke, schöne, mutige und schlaue Schäfer auf dem Weg zur Herrschaft über Kelgurien. Er kämpft mit dem kargen Boden seiner Heimat, kämpft gegen adelsstolze Feudalherren und listige Bischöfe, ebnet sich den Weg, bis er Freund ist des Kaisers und Geliebter der schönen Markgrafentochter Judith. Barral erlebt all das, was wir uns heute, fünfzig Jahre nach Erscheinen des Buches, unter Mittelalter vorstellen: Inquisition, Seuchen, Kriege, Minne, Rittertunier, Pogrome. Wie all die Handlungsstränge zusammen getragen werden, ist große Kompositionskunst.
Kinder der Finsternis: Appell, der eigenen Beschränktheit zu entfliehen
Und noch eines leistet das Buch: In der Begegnung Barrals mit der maurisch-islamischen Kultur in Spanien porträtiert der Autor das hohe ethische Niveau und den wissenschaftlichen Stand des Islam im Mittelalter. Wolf von Niebelschütz flicht es wie nebenbei in seinen Roman, der Leser aber stolpert und erschrickt beim Lesen übers eigene Vorurteil.
"Die Kinder der Finsternis" war zur Zeit der Veröffentlichung ein Kunstwerk, das weit über die Zeit seiner Entstehung hinauswies. Es handelte von Tod, Sex mit Knaben, kirchlichem Amtsmissbrauch – es war alles andere als prüde. Das (und vielleicht noch die Komposition der Sprache) wurde ihm zum Verhängnis. Ein materieller Erfolg waren Buch und Autor nicht beschieden. Aber es taucht seit fünfzig Jahren immer wieder in den Programmen der Verlage auf.
Wolf von Niebelschütz starb wenige Monate nach dem Erscheinen des Romans am 22. Juli 1960 an den Folgen einer Gehirntumor-Operation. Er ist nur 47 Jahre alt geworden.
Bildquelle:
johannes flörsch
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