Glympstorys

Glympstorys (Bild: Roy Stuart)

Wenn es um erotische Fotografien geht, gebührt Roy Stuart einen Platz ganz oben auf der Liste seiner Kollegen. Der 1955 in New York Geborene begann seine Karriere als Modefotograf und arbeitete für diverse US-Magazine, wechselte aber bald das Sujet und spezialisierte sich auf Aktfotografien. In der letzten Dekade des vergangenen Jahrhunderts verlegte er seinen Wohnsitz nach Paris, wo er in seiner großbürgerlichen Altbauwohnung in einem der besseren Viertel der Seine-Metropole einen ganz besonderen Stil für die Ablichtung spärlich beziehungsweise gar nicht bekleideter Körper entwickelte. Er inszeniert Frauen – und manchmal auch Männer – in kunstvoll arrangierten Szenen in luxuriösem Ambiente und kreiert auf diese Weise Hochglanzerotik für Anspruchsvolle.

1998 veröffentlichte er seinen ersten Fotoband im Kölner Taschen Verlag, dem im Laufe der Jahre vier weitere folgten. Anschließend nahm er sich eine Auszeit von fünf Jahren, zumindest was die Fotobände angeht, ehe er nun sein fünftes Buch veröffentlichte, das er, in Anlehnung an seine parallel zu den Fotoarbeiten entstandenen DVDs, "Glympstorys" nannte.

Der Reiz des flüchtigen Blicks

"To glimpse" bedeutet so viel wie "einen flüchtigen Blick erhaschen", und in der Tat ist das, was Stuart in seinen Bildern festhält, ein kurzer Moment, eine entscheidende Sekunde, in der die Kamera zeigt, was fremden Augen normalerweise verborgen bleibt: ein Blick unter den Rock, ein verrutschtes Dekolleté, eine enthüllende, entlarvende Bewegung. Manche Bildfolgen erinnern an einen Fotoroman, der von einer kurzen, aber der entscheidenden Begegnung zwischen Mann und Frau oder Frau und Frau erzählt, da nimmt Stuart es nicht so genau (nur Homosexualität spart er konsequent aus). Die Bilder knistern vor Erotik, begeben sich jedoch bei aller Explizitheit nie auf das Niveau plumper Pornografie.

"Ich fotografiere keine Frauen, die Highheels oder Strapse tragen, außer vielleicht mit ironischem Unterton", erklärt er im Vorwort zu seinem neuen Buch. "All diese absurden Modetrends, wie zum Beispiel die Intimrasur, wurden den Frauen schon immer von einer gierigen Konsumkultur aufgezwungen, die die gefügigen Konsumentinnen glauben machen will, dass sie Trends folgen müssen, um ‚schön‘ zu sein."

Schön im klassischen Sinne sind seine Mädchen und Frauen auf jeden Fall. Sie haben große Augen, geschwungene Lippen, Stupsnasen und reizende Gesichter. Viele von ihnen wirken wie fleischgewordene Unschuldsengel. Bezeichnenderweise tragen die meisten schlichte, weiße Slips unter ihrer edlen Designerkleidung; die genretypische glitzernde Reizwäsche ist verpönt. Man mag das auch so interpretieren: Die Entblößung geschieht zufällig und kann jederzeit vonstattengehen; die Frauen haben sich nicht eigens dafür herausgeputzt. Es könnte, so die Botschaft, jederzeit jede den Mann (oder die Frau) treffen, mit dem oder der sie ein paar intime Momente verbringen möchte. Der magische Moment ist allgegenwärtig.

Die Kunst und das Begehren

Männer sind in Stuarts Fotogeschichten eher Beiwerk; von manchen sieht man nicht einmal das Gesicht. Sie bedienen auch nicht das klassische Rollenspiel des Unterwerfers, vor dem die Frauen willig auf die Knie sinken. Im Gegenteil, es sind gerade die Frauen, die den Ablauf des Geschehens bestimmen. Natürlich lassen sie sich anblicken und nehmen in Kauf, dass sie dabei taxiert werden. Gleichzeitig jedoch wissen sie genau – und das wiederum sieht man ihren ironischen Blicken und selbstbewussten Mienen an –, dass sie es sind, die die Situation beherrschen und jederzeit nach ihrem Willen beeinflussen können. Wenn hier einer die Sklavenrolle übernimmt, ist es stets der Mann.

"Das Werk von Stuart", schreibt Lazlo Hamelin im Vorwort der "Glympstorys", "befasst sich tiefgehend mit der Frage nach dem Künstlerischen und setzt sich mit mehr als nur dem Begehren auseinander: und zwar mit dem Verhältnis zwischen Kunst und Schönheit (…) Die Schönheit der Modelle evoziert ein Gefühl, das uns an die mit Wehmut erlebte Unzulänglichkeit (bezüglich der Grenzen unseres Daseins) erinnert." Beim Betrachten der Bilder erlebe man einen "Moment des Begehrens des anderen, in dem wir (…) über uns selbst hinausgehen".

Was pornografisch ist, liegt letztlich im Auge des Betrachters. Was für den einen die rote Linie ist, die er niemals überschreiten würde, ist für den anderen die Möglichkeit, neue Spielarten zu entdecken. Der nackte Körper ist seit jeher ein Sujet in der bildenden Kunst und als Objekt der Darstellung weitgehend akzeptiert. In den Museen der westlichen Welt ist Enthülltes allgegenwärtig. Was einst für veritable Skandale sorgte – etwa Gustave Courbets 1866 entstandenes Gemälde "Der Ursprung der Welt", das eine behaarte Vulva quasi in Großaufnahme zeigt –, ist längst in den Kunstkanon übergegangen (und im Pariser Musée d'Orsay zu bewundern). Und die Romane gewordenen Fantasien eines Marquis de Sade oder Henry Miller gehören längst zur Weltliteratur.

Kultureller Ritterschlag von arte

"Was Sie schon immer über die Darstellung von Sex wissen wollten, ohne sich jemals zu trauen, Roy Stuart zu fragen", überschrieb der Kultursender "arte" im September 2013 eine Fernsehsendung, die er dem Fotografen und seinem Werk widmete. Spätestens seit der Ausstrahlung der Dokumentation kann sich der Amerikaner rühmen, den künstlerischen Ritterschlag bekommen zu haben.

Seit Anfang 2000 dreht Stuart auch DVDs, in denen er seine Fotoarbeiten dokumentiert. "Glimpse" heißen diese Filme, von denen er mittlerweile insgesamt 14 veröffentlicht hat. Hier lässt er seine Fotografien sozusagen zum Leben erwachen; erzählt, was zwischen zwei Bildern geschieht. Auch hier ist er, bei aller Explizitheit, stets doch meilenweit entfernt von pornografischer Dutzendware. Die schönen Menschen lässt er in originell eingefangenen Naturbildern agieren, untermalt von (klassischer) Musik und eingestreuten Gedichtzeilen von Baudelaire bis Goethe (auf Französisch beziehungsweise Englisch).

Countdown zum Höhepunkt

Bei aller knisternden Erotik kommt auch der Humor nicht zu kurz. Kultstatus unter Roy-Stuart-Fans genießt jene Szene, in der eine junge Frau unvermittelt einen Countdown zum Orgasmus ihres Partners startet: Sie beginnt von zehn an rückwärts zu zählen, und als sie bei Null ankommt, ejakuliert der Mann – eine ebenso bizarre wie witzige Szene, deren Pointe darin besteht, dass das eigentlich Unkontrollierbare auf einmal den Gesetzen von Zahlen und Zeiten unterworfen wird: die Leidenschaft als Disziplin im Leistungssport.

Und sie erinnert nicht zuletzt an den Kampf der Geschlechter, der hier zu einer Art Match nicht im Ring, sondern auf der Matratze wird: Bei Null ist der Gegner endgültig ausgezählt und liegt erschöpft und ausgelaugt am Boden. Unter allen erotischen Episoden, die Stuart gedreht hat und in denen der Humor unterschwellig immer mitschwingt, ist diese bei Weitem die Witzigste (sie ist auch auf der DVD im neuen Fotoband enthalten).

Umso enttäuschender ist die dagegen die Nr. 14. in der Reihe der "Glimpse"-DVDs. Hier scheinen Stuart auf einmal die Ideen ausgegangen zu sein: Zu lang, zu langatmig sind die meisten Szenen. Der Fotograf beschränkt sich bei den Schauplätzen weitgehend auf Innenräume, schneidet keine (verfremdeten) Naturbilder dazwischen. Das muss kein Nachteil sein, doch da sich die Szenen auf das Immergleiche konzentrieren, und dies auch noch in epischer Länge, lässt das Interesse schnell nach, und Langeweile stellt sich ein. Kaum etwas ist zu spüren von der Poesie des Erotischen oder der unterschwelligen Parodie des Pornografischen, die seine früheren Filme auszeichnet. Zumindest diese DVD bestärkt das (Vor-)Urteil, dass nicht jeder ideenreiche Fotograf auch ein ebenso ideenreicher Filmemacher sein muss.

Ein Trost: Nr. 15 kann nur besser werden … © Rainer Nolden

 

Roy Stuart, "Glympstorys", inklusive DVD. Edition Skylight (in der Edition Olms, Zürich) 320 Seiten,39,95 Euro.

Die 14 DVDs sowie die Filme "The Lost Door" und "Giulia" sind beim Autor direkt zu beziehen ([email protected]); Infos auf der Homepage des Fotografen: www. roystuart.net 

Die Klavierstunde

Die Klavierstunde (Bild: Roy Stuart)

Glympstorys

Glympstorys (Bild: Roy Stuart)

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